Interview

Interview zum Chemnitzer Urteil "Die Entscheidung ist richtig"

Stand: 02.11.2007 20:12 Uhr

Die Chemnitzer Richter haben mit ihrem Urteil im Berufungsverfahren nicht nur für den Bahn-Tarifkonflikt ein Signal gesetzt. Sie haben auch dem Streikrecht seine Bedeutung zurückgegeben, meint Arbeitsrechtler Lobinger im Gespräch mit tagesschau.de.

Das Sächsische Landesarbeitsgericht hat entschieden: Die Lokführer dürfen im Güter- und Fernverkehr streiken. Damit haben die Chemnitzer Richter nicht nur für den laufenden Tarifkonflikt der Gewerkschaft GDL mit der Deutschen Bahn ein Signal gesetzt. Sie haben auch dem Streikrecht seine Bedeutung zurückgegeben, meint Arbeitsrechtler Thomas Lobinger im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Herr Lobinger, was halten Sie vom Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgericht?

Thomas Lobinger: Das Ergebnis entspricht meiner Rechtsansicht. Ich hatte an den vorigen Entscheidungen aus Nürnberg und Chemnitz - übrigens im Einvernehmen mit den meisten meiner Kollegen - erhebliche Zweifel. Die Entscheidung ist in der Sache richtig.

tagesschau.de: Das "Prinzip der Unverhältnismäßigkeit" als ursprüngliche Begründung für das Streikverbot im Güter- und Fernverkehr ist ja nun gekippt. Was bedeutet das für das Streikrecht an sich?

Lobinger: Für das Streikrecht bedeutet das eine Konsolidierung. Mit dem Nürnberger und dem erstinstanzlichen Chemnitzer Urteil waren wir im Prinzip neue Wege gegangen. Es war etwas Neues, dass die Schäden, die bei Dritten eintreten können, und die volkswirtschaftlichen Schäden auf einmal so in den Vordergrund gerückt wurden. Sicherlich war das auch dem Umstand geschuldet, dass wir es hier mit zwei Problemen zu tun haben: einerseits einer Spartengewerkschaft, die nur für ihre Klientel, nämlich die Lokführer, kämpft, und andererseits einem volkswirtschaftlich immens bedeutsamen Monopol-Unternehmen, das bestreikt wird. Bei solchen Unternehmen sind die Drittschäden ohnehin immer groß. Das verführte möglicherweise dazu, dieses Schäden überzubewerten.

Streik aber hat immer Folgen für Dritte und immer Nachteile für die gesamte Volkswirtschaft. Doch ist es sehr schwer zu quantifizieren, ab wann eine Unverhältnismäßigkeit vorliegt. Mit dieser Karte sollte man extrem vorsichtig sein, um das Streikrecht nicht kaputt zu machen. Das haben wir eigentlich in Deutschland auch immer gemacht. Die Entscheidung der Chemnitzer Richter führt nun wieder auf die Bahnen zurück, die wir in der Rechtssprechung bisher so kannten.

Zur Person
Thomas Lobinger ist Professor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Handelsrecht. Seit 2003 lehrt er an der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg.

tagesschau.de: Was bedeutet das für die GDL-Forderung nach einem eigenen Tarifvertrag? Ist dem "Prinzip der Tarifeinheit" damit der Boden entzogen?

Lobinger: Ganz sicher, und ich halte das für richtig. Das ist mit das Wichtigste an der Entscheidung. Denn wenn ich das richtig sehe, hat in der Berufungsverhandlung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gar keine so große Rolle gespielt. Vielmehr hat man sich wieder dem Grundsatz der Tarifeinheit gewidmet - und das ist eine grundsätzliche Frage: Was ist wichtiger? Das Grundrecht, sich zu einer Gewerkschaft zu koalieren und dann eben einen Tarifvertrag zu erstreiten? Oder die Ordnung und die Einheitlichkeit? Ich meine, da ist unser Grundgesetz recht eindeutig. Es sagt: Man hat Koalitionsfreiheit. Das heißt: Wenn man es geschafft hat, sich mit hinreichend vielen zusammen zu tun und einen Tarifvertrag zu erstreiten, dann kann es nicht sein, dass später ein Gericht darüber belehrt: 'Ihr wart leider in der falschen Gewerkschaft, es gilt ein anderer Tarifvertrag in eurem Betrieb, weil da eine größere Gewerkschaft vertreten ist!' Das ist nur schwer nachzuvollziehen.

tagesschau.de: Heißt das also auch, dass das Urteil der Chemnitzer Richter kleine Gewerkschaften stärkt?

Lobinger: Im Moment ja, ganz sicher. Aber was heißt Stärkung? Im Grunde ist es das selbstverständliche Recht der Einzelnen, sich mit denen zu einer Gewerkschaft zusammenzufinden, mit denen sie es möchten. Dieses Recht, das in der Verfassung steht, ist uns wieder in Erinnerung gerufen worden. Politisch kann man das als „Stärkung“ bezeichnen, aber eigentlich ist das die ganz normale Rechtslage in Deutschland.

Das Gespräch führte Britta Scholtys, tagesschau.de.