Sanierungen als Dauerproblem Wie marode Brücken die Wirtschaft bedrohen
Industrie- und Handwerkskammern im Rheinland schlagen Alarm: Hunderte Brücken sind marode. Das bedeutet große Risiken nicht nur für die regionale Wirtschaft. Die Folgen sind bundesweit zu spüren.
Wie kaputte Brücken eine ganze Region kollabieren lassen, kann man zurzeit rund um Lüdenscheid beobachten. Seit dem 2. Dezember 2021 war die Rahmedetalbrücke gesperrt. Dann dauerte es noch bis zum 7. Mai 2023, bis sie gesprengt wurde. Mehrere Jahre wird die Sperrung der betroffenen Autobahn-Strecke andauern. Das Verkehrschaos seither ist nicht nur für die Menschen hart. Auch die Wirtschaft leidet. Und so droht einer ganzen Region die Abkoppelung vom Rest des Landes.
Mai 2023: Die Brücke über das Rahmedetal bei Lüdenscheid in Nordrhein-Westfalen wird gesprengt. Zu diesem Zeitpunkt ist die wichtige Verkehrsader bereits seit knapp anderthalb Jahren gesperrt.
Dauerstau bedroht die Existenz
Seit mehr als eineinhalb Jahren sind für den Kfz-Mechaniker Timo Hölscher Probefahrten reine Glückssache. Wenn sich die Lkw vor dem Familienbetrieb in Lüdenscheid, den er gemeinsam mit Ehefrau Sophia leitet, mal wieder kilometerlang stauen, kann er die Autos seiner Kunden kaum Probe fahren. Falls seine Kunden den beschwerlichen Weg zu ihm überhaupt auf sich nehmen.
Das ist existenzgefährdend. Die Hölschers mussten sogar darüber nachdenken, ihr Eigenheim aufzugeben und in eine Mietwohnung zu ziehen. Zwischen 30 und 35 Prozent Umsatzeinbußen und massive Sorgen um ihre Zukunft haben auch gesundheitliche Spuren hinterlassen. Der robuste Kfz-Mechaniker Hölscher wurde zum ersten Mal in seinem Leben ernsthaft krank: Er erlitt einen Herzinfarkt.
Wegen der Brückenbaustelle im Rahmedetal, die noch Jahre andauern wird, staut sich der Verkehr regelmäßig auf vielen Kilometern - eine Belastung für Anwohner und die regionale Wirtschaft.
Brücken als Risikofaktoren
Den Grund für die Probleme der Hölschers - und zahlloser weiterer Familien- und Industriebetriebe im Sauerland - sehen die Verfasser der Studie "Risikofaktor Brücken" in einer groben Vernachlässigung der Infrastruktur. Im Auftrag von sieben rheinischen Industrie- und Handelskammern hat das Institut für Straßenwesen der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen sämtliche Brücken im Rheinland neu taxiert.
Das nüchterne Ergebnis: Von den insgesamt mehreren Tausend Brücken sind danach 650 schwer beschädigt und 350 sogar sehr schwer beschädigt. Mit anderen Worten: Diese Brücken haben das Ende der Nutzung erreicht.
Jeder Tag Bauverzögerung kostet viel Geld
Für Dirk Kemper, Verkehrswissenschaftler an der RWTH Aachen, stellt der baldige Ausfall vieler Brücken ein erhebliches Risiko für die Wirtschaft dar - nicht nur für die Region Rheinland, sondern für die Bundesrepublik insgesamt.
Wie hoch die Kosten sein können, hat Christian Kestermann vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) anhand der Rahmedetalbrücke in Lüdenscheid ausgerechnet: satte 1,8 Milliarden Euro. Der Volkswirtschaftler hat zunächst die Verzögerungskosten berechnet. Das sind die Kosten, die entstehen, wenn Lkw und Pkw über andere Autobahnen ausweichen müssen. Sie betragen laut Studie mindestens 1,2 Milliarden Euro.
Außerdem rechnet Kestermann mit weiteren 600 Millionen Euro Standortkosten, die der Region Südwestfalen durch eine sinkende wirtschaftliche Attraktivität drohen. Nicht eingerechnet in die 1,8 Milliarden Euro sind die finanziellen Ausfälle für Betriebe der Region wie den der Hölschers. Und: Jeder Tag, um den sich die Bauzeit verlängert, rechnet Kestermann weiter, koste die Volkswirtschaft eine Million Euro zusätzlich. Der Faktor Zeit sei damit wesentlich bei jeder Brückensanierung.
"Genehmigung kann nicht zehn Jahre dauern"
Auch für den Verkehrsexperten Kemper ist das Tempo relevant. "Wir müssen die Planungsabläufe verkürzen. Es kann nicht sein, dass wir zehn Jahre brauchen für eine Genehmigung von einer Brückensanierung." Außerdem müssten die Bauvorhaben auch schneller umgesetzt werden, zum Beispiel durch standardisierte Abläufe und Fertigbauteile. "Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, dass jede Brücke eine architektonische Meisterleistung ist", sagt Kemper.
Seit dem 1. Januar 2021 hat die Autobahn GmbH des Bundes die Verantwortung für Planung, Bau, Betrieb, Erhalt und die Finanzierung aller Bundesautobahnen einschließlich der Autobahnbrücken. Zuvor waren die Verantwortlichkeiten auf die 16 Bundesländer verteilt. Die Autobahn GmbH, die im Auftrag des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr agiert, will ab 2026 jedes Jahr 400 Autobahnbrücken sanieren: ein ehrgeiziges, aber wichtiges Ziel. Im Moment schafft sie nicht mal die Hälfte der notwendigen Sanierungen.
Verkehrschaos wäre zu vermeiden gewesen
Ein Beispiel aus Aachen: Dass die Haarbachtalbrücke an der A544 durch einen Neubau ersetzt werden muss, steht laut Autobahn GmbH "seit einigen Jahren fest". Fest steht aber auch: Wenn man früher reagiert hätte, wäre ein Neubau überhaupt nicht nötig gewesen. Handwerk und Industrie der Region üben massive Kritik, denn das drohende Verkehrschaos wäre zu vermeiden gewesen.
Ein weiteres Beispiel gibt es in Krefeld: Hier hält die 1936 gebaute Uerdinger Brücke, über die die B288 führt, dem Schwerverkehr nicht mehr stand und muss wohl ebenfalls abgerissen werden. Bis eine neue Brücke steht, vergehen mindestens zwölf Jahre. Für Patrick Wisotzky, den Geschäftsführer des Rheinhafens Krefeld, eine mittlere Katastrophe, denn "die regionale Wirtschaft ist auf eine funktionierende Rheinquerung angewiesen".
Im Mai wurde vom Bundeskabinett ein Beschleunigungsgesetz für die Infrastruktur verabschiedet. Danach soll die Genehmigungspflicht für Brücken, die im Zuge der Sanierung erweitert werden sollen, entfallen - ebenso wie die Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung. Damit soll der gesamte Planungs- und Genehmigungszeitraum halbiert werden.