EZB hebt Leitzins an Warum die Zinserhöhung nur ein Anfang ist
Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt hat die EZB wieder die Zinsen angehoben. Welche Folgen hat das? Warum reicht das einigen Experten nicht? Und warum bringt Italien die Notenbank in ein Dilemma?
Es ist ein Meilenstein: Nach mehr als einem Jahrzehnt der lockeren Geldpolitik hat die Europäische Zentralbank (EZB) den angekündigten Einstieg in die geldpolitische Straffung beschlossen und damit die Zinswende eingeleitet. "Wir haben entschieden, die Zinsen um jeweils 0,5 Prozentpunkte anzuheben", sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde in Frankfurt. Zugleich kündigte sie weitere Erhöhungen der Leitzinsen an. Die historische Abkehr von der lockeren Geldpolitik ist zugleich ein Abschied von Strafzahlungen für Geschäftsbanken und von Nullzinsen für Sparer.
Stärkere Anhebung als angekündigt
Auf der vergangenen EZB-Ratssitzung in Amsterdam hatten die Währungshüter noch eine Anhebung von lediglich 0,25 Prozentpunkten in Aussicht gestellt. Einige Fachleute reagierten daher verwundert. "Ich persönlich war schon überrascht, dass die EZB die Leitzinsen um 50 Basispunkte erhöht hat, weil sie so konkret wie selten zuvor im Juni 25 Basispunkte angekündigt hatte", sagt etwa Emanuel Mönch, Professor für Geldpolitik und Finanzmärkte an der Frankfurter School of Finance & Management, im Gespräch mit tagesschau.de. Das sei ein klares Signal, dass die EZB nun versuche, im Kampf gegen die hohe Inflation die Kurve zu bekommen.
"Der EZB-Rat hielt es für angemessen, einen größeren ersten Schritt auf dem Weg zur Normalisierung der Leitzinsen zu tun, als er auf seiner letzten Sitzung angekündigt hatte", begründete die Notenbank ihre Entscheidung. Sie beruhe auf der aktualisierten Einschätzung der Inflationsrisiken durch den EZB-Rat.
Für den ehemaligen Wirtschaftsweisen Volker Wieland ist das "ein Hoffnungsschimmer", dass die Notenbank die Zinsen jetzt schneller erhöht als vermutet. Denn die Anhebung "kommt zu spät und ist zu wenig, um die Inflation wirksam zu bekämpfen", so der Professor für Monetäre Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt gegenüber tagesschau.de. Die Inflationserwartungen seien in den vergangenen Monaten viel stärker angestiegen, sodass die reale Verzinsung trotzdem niedriger ausfalle.
Inflation auf historischem Höchstwert
"Die EZB hat es versäumt, auf den Anstieg der Inflation zu reagieren. Es war schon im Frühjahr 2021 absehbar, dass sie deutlich ansteigt. Bereits damals hätte die EZB ihre sehr lockere Geldpolitik anpassen müssen", sagte Wieland dem Hessischen Rundfunk. Weil sie es nicht tat, habe sie dazu beigetragen, dass die Inflation und die Erwartungen weiter nach oben kletterten. Der Ukraine-Krieg und die explodierenden Energiepreise seien lediglich ein "Brandbeschleuniger" gewesen. "Die EZB reagiert viel zu spät und zu vorsichtig."
Auch andere Experten hatten angesichts der Rekordinflation in der Eurozone eine noch stärkere Erhöhung der Leitzinsen gefordert. Im Juni lagen die Verbraucherpreise im Euroraum um 8,6 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Für das Gesamtjahr 2022 schätzt die EU-Kommission durchschnittlich 7,6 Prozent Inflation im Währungsraum der 19 Länder - ein historischer Höchstwert.
Damit befindet sich die Teuerungsrate weit über dem von der EZB angestrebten jährlichen Ziel von zwei Prozent. Eine höhere Inflation schmälert die Kaufkraft von Verbrauchern, da sie sich für einen Euro weniger leisten können. Treiber der Inflation sind seit Monaten deutlich gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Lage noch einmal verschärft.
Im Vergleich zu anderen Zentralbanken weit hinterher
Kritiker werfen der EZB schon länger vor, die Zinswende viel zu spät einzuleiten. "Die EZB ist im Vergleich zu anderen Zentralbanken weit hinten dran im Zinserhöhungszyklus", erklärt Experte Mönch. Sie sei nun in der Pflicht gewesen, zügig zu reagieren, "um der Inflation einigermaßen Herr zu werden". Zum Vergleich: Etwa die US-Notenbank Fed hat die Leitzinsen seit dem Frühjahr auf die derzeitige Spanne von 1,5 bis 1,75 Prozent angehoben. Allein der Zinsschritt im Juni betrug 0,75 Prozent und war damit der höchste Sprung seit 1974. In Kanada haben die Währungshüter den Leitzins gar um einen ganzen Prozentpunkt angehoben.
Allerdings hat es die EZB auch nicht gerade leicht: Wegen der aktuellen Energiekrise komme die Zinserhöhung eigentlich zur Unzeit, meint Christina Bannier, Professorin für Finanzen an der Universität Gießen, im Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk: "Zum einen haben wir die enorm wachsende Inflationsrate, zum anderen die Gefahr einer Rezession oder einer sich stark abschwächenden Konjunktur." Ersteres spreche für aggressivere Zinssteigerungen, letzteres eher für niedrigere Zinsen, um die Konjunktur zu stützen.
Denn hohe Zinsen würgen die schwache Konjunktur der ökonomischen Lehre nach weiter ab, weil Investitionen für Unternehmen kostspieliger werden und sich der private Konsum aufgrund der teureren Kredite abschwächt. Deshalb ist es für Bannier nachvollziehbar, dass die EZB anders als andere Notenbanken weltweit sehr viel vorsichtiger vorgeht.
EZB in der Zwickmühle
Auch Mönch von der Frankfurt School of Finance & Management sieht dieses Dilemma: "Es ist eine sehr schwierige Situation für die Zentralbank. Einige dieser Preistreiber haben mit Nachfrageeffekten nur wenig zu tun." Stattdessen werde die Wirtschaft eher auf der Angebotsseite belastet: durch Lieferkettenengpässe infolge der Pandemie oder den Ukraine-Krieg, der sich auf die Energiepreise auswirkt. Da könne eine Zentralbank traditionell nur wenig bewirken.
Dazu kommt neben dem schwachen Euro, der die Importe verteuert und die Inflation weiter anheizt, die hohe Verschuldung von Staaten in Südeuropa, für die zu schnell angehobene Zinsen zur Belastung werden können. "Die lange niedrigen Zinsen wurden von einigen europäischen Staaten nicht gut genug genutzt, um die Schuldenquoten zurückzuführen", so Mönch. Die Skepsis an den Finanzmärkten sei groß, wie diese Länder die Zinswende überstehen können.
Denn schon die Entscheidung über das Ende der Anleihenkäufe und die Ankündigung die Zinserhöhung im Juni hatte die dortigen Renditen nach oben getrieben. Um den stark verschuldeten Staaten bei Turbulenzen auf dem Anleihenmarkt zu unterstützen, verständigten sich die Währungshüter deshalb nun auf ein neues Krisen-Anleihenkaufprogramm. Schon im Juni waren die Arbeiten daran forciert worden.
Neues Anti-Krisen-Instrument
Das neue Werkzeug "Transmission Protection Instrument" (TPI) soll dabei helfen, dass die Geldpolitik gleichmäßig im Euroraum wirken kann und es nicht zu einem Auseinanderlaufen der Finanzierungskosten der einzelnen Eurostaaten kommt. Der Renditeabstand - der Spread - zwischen Staatsanleihen aus Deutschland und denen höher verschuldeter Euroländer, insbesondere Italiens, hatte sich zuletzt ausgeweitet. In anderen Worten: Für Länder wie Italien, wo die Regierungskrise für zusätzliche Nervosität an den Märkten sorgt, wird es teurer, sich frisches Geld zu besorgen.
Die Einheitlichkeit der Geldpolitik des EZB-Rats sei jedoch eine Voraussetzung dafür, dass die EZB ihr Preisstabilitätsmandat erfüllen könne, erklärte die Notenbank. TPI sei für spezielle Situationen und Risiken geschaffen worden, die jeden Staat in der Eurozone treffen könnten. Der EZB-Rat werde bei Bedarf und abhängig von bestimmten Indikatoren darüber entscheiden, ob das Programm für ein Land aktiviert und wie hoch der Umfang sein werde. Zudem sei es an mehrere Bedingungen, wie etwa die Schuldentragfähigkeit, geknüpft.
"Ich befürchte, dass die EZB gar nicht daran vorbeikommt, das Programm einzusetzen", erklärt Experte Wieland. Die Erwartungen seien sehr hoch und gerade in Italien würden die Investoren in der Regierungskrise einen hohen Aufschlag verlangen. Er sehe TPI "hoch problematisch". Schließlich sei es normal, dass höherverschuldete Staaten in einer Straffung höhere Zinsaufschläge am Markt zahlen müssen. Zudem habe die Notenbank den Markt in den vergangenen mehr als zwei Jahren mit ihren Pandemie-Notfallkaufprogramm weitestgehend ausgehebelt, sodass die Prämien der vergangenen zwei Jahre keinen marktgerechten Aufschlag widerspiegeln.
TPI wird im Fall Italien offenbar vorerst nicht eingesetzt
Fachmann Mönch kann die EZB dagegen ein Stück weit verstehen: "Die Zentralbank muss Geldpolitik für alle Mitgliedsstaaten machen und sicherstellen, dass die Zinsentscheidung in allen Ländern ankommt. Wenn es auf den Finanzmärkten zu Turbulenzen kommt, kann die Effektivität eingeschränkt sein." Ob das neue Instrument die Lage aber tatsächlich beruhige, sei unklar. Wenn sich die Krise in Italien weiter verschärfe, müsse die EZB möglicherweise sehr viel Geld in die Hand nehmen, um die Zinsen auf italienische Staatsanleihen künstlich zu drücken.
"Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im Hinblick auf ihr Primärziel Preisstabilität, die das Bundesverfassungsgericht eingefordert hat, zu wahren, könnte dann zu einer Gratwanderung werden", so Mönch. Zusammengefasst sei es sowohl ökonomisch als auch juristisch schwierig. Ob die EZB TPI bereits in der aktuellen Situation rund um Italien einsetzt, ist offen. Insidern zufolge steht ein Einsatz nicht unmittelbar bevor, da die Bedingungen es nicht rechtfertigen würden, wie mehrere mit der Situation vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters berichteten.
Unabhängig vom neuen Kaufprogramm sollen auf den ersten Zinsschritt in Zukunft weitere folgen. "Auf unseren nächsten Zinssitzungen wird eine weitere Normalisierung der Zinsen angemessen sein", sagte Lagarde. Durch das Vorziehen des Ausstiegs aus den Negativzinsen könnten die Währungshüter zudem dazu übergehen, dass Zinsbeschlüsse nun von Sitzung zu Sitzung gefasst würden. "Wir werden von Monat zu Monat vorgehen und Schritt für Schritt", sagte Lagarde. Der künftige Pfad werde von der Datenlage abhängen. Viele Volkswirte gehen davon aus, dass der Zinssatz im kommenden Frühjahr auf bis zu 1,5 Prozent gestiegen sein wird.
Mit Informationen von Ursula Mayer, Hessischer Rundfunk.