Zwei Menschen sitzen sich an einem Tisch gegenüber und arbeiten mit Holz.
reportage

Aktionstag "Schichtwechsel" Arbeitsplatztausch für neue Perspektiven

Stand: 14.10.2024 06:23 Uhr

Der bundesweite Aktionstag "Schichtwechsel" bringt Menschen zusammen, die in ihrem Arbeitsalltag nur selten zusammenkommen: Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung tauschen für einen Tag den Job.

Lochen, tackern, abstempeln, abheften - Mesut Öztas ist konzentriert. Sorgfältig steckt er jedes fertig bearbeitete, mehrseitige Antragsformular in einen grünen Pappumschlag und legt diesen auf den immer größer werdenden Aktenberg neben sich.

Für einen Tag arbeitet der 38-Jährige in der Verwaltung des Landkreises Mainz-Bingen in Ingelheim. In einem schmucklosen, funktionalen Büro kümmern sich drei Sachbearbeiter um Anträge von Menschen, die einen Zuschuss zu ihren Pflegekosten benötigen.

Aus der Schreinerei an den Schreibtisch

Normalerweise sieht Mesut Öztas' Arbeitsalltag ganz anders aus, mit PC und Papier hat er selten zu tun, stattdessen stecken seine Hände meist in Arbeitshandschuhen. Öztas arbeitet seit mehr als einem Jahr in einer Schreinerei des Evangelischen Diakoniewerks im rheinhessischen Heidesheim. Die Mitarbeitenden bauen dort Tische aus alten Weinfässern oder gestalten verschiedene Dekoartikel aus Holz.

Öztas ist körperlich fit, aber wegen einer psychischen Erkrankung nicht voll belastbar. In einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeitet er, weil er im Moment einem Job auf dem so genannten ersten Arbeitsmarkt nicht gewachsen wäre.

Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch und betrachtet Unterlagen.

Büroarbeit für einen Tag: Mesut Öztas probiert heute einen neuen, ganz anderen Job aus.

Jobwechsel für einen Tag

Dass er durch die Aktion "Schichtwechsel" in einen gänzlich anderen Arbeitsbereich hineinschnuppern darf, begeistert ihn "Es ist toll zu sehen, wie die Arbeit außerhalb der Werkstatt aussieht", sagt er, und man merkt ihm an, dass dieser Tag für ihn ein besonderer ist.

An dem Schreibtisch, an dem er sitzt, arbeitet sonst Patricia Retzlaff. Sie taucht an diesem Tag in Mesut Öztas' bisherige Arbeitswelt ab.

Sägen und Bohren statt Bürotätigkeit

In der Werkstatt der Diakonie in Heidesheim sitzt sie zusammen mit anderen Mitarbeitenden an einem langen Arbeitstisch und schmirgelt mit großer Sorgfalt ein Holzelement ab.

"Es ist total cool, mal etwas Handwerkliches zu machen, das ist so ganz anders als mein Bürojob", sagt Patricia Retzlaff. Sie habe so gut wie nie mit Menschen zu tun, die eine Behinderung haben. Auch das gefalle ihr am Aktionstag "Schichtwechsel". Die Chance für diesen Perspektivwechsel habe sie gerne genutzt, erzählt die 24-Jährige.

Eine Frau sitzt an einem Tisch in einer Werkstatt und arbeitet.

Perspektivwechsel: Patricia Retzlaff findet es "total cool", den Bürojob gegen einen Platz an der Werkbank einzutauschen.

Kontakt zu Menschen mit Behinderung herstellen

Ins Leben gerufen hat den Aktionstag "Schichtwechsel" die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. (BAG WfbM), seit sechs Jahren findet er bundesweit statt. Der Vorstandsvorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft, Martin Berg, erläutert das Konzept: "Von der Arbeit in Werkstätten für behinderte Menschen haben die meisten nur eine sehr grobe Vorstellung. Der 'Schichtwechsel' bietet die Gelegenheit, mit behinderten Menschen ins Gespräch zu kommen".

Ziel sei es außerdem, "Übergänge zu schaffen". Denn die Vermittlungsquote von Arbeitskräften aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt liegt bei unter einem Prozent. Diese Quote sollte deutlich höher sein, wünscht sich Berg. Immer wieder hätte der Aktionstag "Schichtwechsel" dazu geführt, dass Menschen mit Behinderung ein Praktikum in einem Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes machen konnten und später sogar übernommen wurden - das sei gut, sagt Berg.

Chance zum Sprung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt

Doch solche Chancen sind selten, meint auch der Leiter der Einrichtung des Diakoniewerks im rheinhessischen Heidesheim, Oliver Junck. Die Vermittlungsquote von Menschen aus seiner Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt liege zwar über dem Bundesdurchschnitt, nämlich bei 2,4 Prozent, sei aber dennoch nicht zufriedenstellend.

"Wir wollen die Sichtbarkeit und Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen in der Gesellschaft fördern. Es ist wichtig, dass sie die Möglichkeit haben, ihre Talente in einem breiteren Kontext zu zeigen". Arbeitgeber könnten am Aktionstag "Schichtwechsel" einen "realistischen Eindruck von den Fähigkeiten und der Motivation von Menschen mit Behinderung bekommen."

Inklusion gegen Fachkräftemangel

Eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sagte, Aktionstage wie dieser seien eine gute Gelegenheit, bei Arbeitgebern Offenheit für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu schaffen und Inklusion zu fördern. Gleichzeitig könnten sie auch für Werkstattbeschäftigte den Impuls geben, sich näher mit den Möglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu befassen.

Das Ministerium setze sich dafür ein, dass mehr Menschen mit Behinderung den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen. Die sei auch im Blick auf die Herausforderungen der Fachkräftesicherung "zweifelsohne wichtig", so eine Sprecherin des Ministeriums. Das Potenzial von Menschen mit Behinderung müsse noch besser "erschlossen" werden.

Traum vom Leben auf eigenen Füßen

Mesut Öztas hat nach sieben Stunden seinen Bürotag in Ingelheim beendet. Er ist glücklich, dass er hinter die Kulissen einer Verwaltung schauen durfte: "Es war spannend zu sehen, wie unterschiedlich die Arbeitswelten sein können", beschreibt er seine Eindrücke, "alle waren supernett und die Kantine war auch toll".

Mit diesen neuen Erfahrungen geht er zurück in seinen Alltag in der Werkstatt. Und mit dem Wunsch, einmal ein Praktikum in der Kreisverwaltung machen zu dürfen. Denn Mesut Öztas hat einen großen Traum: Er möchte irgendwann genug Geld verdienen, um sich eine eigene Wohnung und ein eigenes Auto leisten zu können. Mit einem "echten Job" - auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.