Interview zu Wahlverweigerern "Es muss ein Recht auf Nichtwählen geben"
Der Nichtwähler: frustriert und desinteressiert? Auch, sagt Politologe Probst im tagesschau.de-Interview, aber nicht nur: "Die Parteien sind nicht mehr in der Lage, politisch Interessierte zu erreichen." Eine Wahlpflicht wie in Belgien oder der Türkei hält er aber dennoch für "fatal".
tagesschau.de: Herr Probst, Nichtwähler sind frustriert und politisch desinteressiert. Richtig?
Lothar Probst: Es gibt schon so genannte Sozialstrukturmerkmale. Wenn man den typischen Nichtwähler zeichnen will, kann man sagen: Es sind junge Leute zwischen 20 und 30 aus dem großstädtischen Milieu. Sie sind arbeitslos, konfessionslos und verfügen über eine niedrige Bildung. Die klassische Unterschicht - oder das Prekariat, um es freundlicher zu formulieren. Aber die Nichtwähler kommen auch verstärkt aus anderen Lagern.
tagesschau.de: Zum Beispiel?
Probst: Neuere Forschungen zeigen, dass der Anteil der höher Gebildeten unter den Nichtwählern wächst, die das politische Geschehen sehr wohl verfolgen und sich sozial engagieren, zum Beispiel in Vereinen oder Initiativen. Sie sagen: "Ich entziehe mich dem Wahlzirkus, ich verspreche mir nichts mehr davon, ich gehe nicht mehr wählen."
Es ist immer bedenklich, wenn Bürger nicht wählen gehen - aber es ist ein Alarmzeichen, dass die Parteien auch nicht mehr in der Lage sind, politisch Interessierte zu erreichen. Sie versuchen natürlich alle, an diese Leute wieder heranzukommen. Man muss allerdings sagen, dass der Anteil dieser Nichtwähler immer noch gering ist. Aber er nimmt zu.
tagesschau.de: Wer geht sonst noch nicht wählen?
Probst: Wir unterscheiden zwischen drei Typen. Erstens: der grundsätzliche Nichtwähler. Er ist grundsätzlich gegen das politische System. Zweitens gibt es die Gruppe derjenigen, die aus Krankheitsgründen nicht an der Wahl teilnehmen können oder weil sie versehentlich keine Wahlbenachrichtigung bekommen haben. Die dritte Gruppe ist für die Parteien die interessanteste: die konjunkturellen Nichtwähler. Sie entscheiden bei jeder Wahl aufs Neue, ob sie wählen gehen oder nicht. Diese Gruppe ist in den vergangenen Jahren eindeutig gewachsen.
"Es liegt an der Performance der Parteien"
tagesschau.de: Woran liegt das?
Probst: An der gestiegenen Zahl der Parteien und der Vielfalt ihrer Themen: Es gibt nicht mehr "die" Partei und es gibt nicht mehr "das" Milieu, das "seine" Partei wählt. Wir leben in einer Gesellschaft von Individuen, die sich die für sie passende Partei mit ihrem Programm suchen. Zum Teil sogar von Wahl zu Wahl neu. Es liegt aber auch an den Parteien: Potenzielle oder bisherige Wähler einer Partei, die in einer Legislaturperiode eine schlechte Performance abgeliefert hat, wählen bei der nächsten Wahl gar nicht - statt nur eine andere Partei. Dieses Problem hat beispielsweise die SPD seit Längerem.
"In den 70ern gab es Themen, die elektrisierten"
tagesschau.de: Die höchste Beteiligung gab es bei der Bundestagswahl 1972 mit 91,1 Prozent. Die niedrigste hatten wir bei der letzten Bundestagswahl 2005: 77,7 Prozent. Was unterscheidet diese beiden Jahre voneinander?
Probst: In den 70er-Jahren war die Wahlbeteiligung generell am höchsten. Da hatte sich die parlamentarische Demokratie in Deutschland gefestigt. Und diese Zeit war geprägt von Auseinandersetzungen: in den 50er- und 60er-Jahren über die Westanbindung, dann in den 70er-Jahren über die Ostpolitik Willy Brandts. Diese Themen elektrisierten die Menschen. Kontroversen wurden durch Personen ausgetragen. Damals herrschte noch das Gefühl, dass die Parteien der bestimmende Faktor in diesen Auseinandersetzungen waren, wenn auch über ihre Repräsentanten.
Die Mehrheit der Bürger hat sich damals in den beiden Volksparteien noch wiedergefunden. Das zeigen auch die Mitgliederzahlen, die um die Million lagen. Auch darin drückte sich das Bedürfnis aus, in Parteien etwas zu bewegen.
tagesschau.de: Wo tut man das heute?
Probst: Heute sucht man sich auch im Zuge von Individualisierungsprozessen andere Institutionen. Das fing mit der 68-er Bewegung an und ging weiter über die Anti-Atom-Bewegung. Wir haben inzwischen ein breites Spektrum an Initiativen und Vereinen, die politisch aktiv sind wie Greenpeace, Amnesty International oder Attac.
Vor allem junge Leute wollen sich nicht mehr ihr ganzes Leben lang an eine Partei binden. Da gilt das Motto "small and soon": Diese Organisation muss für mich überschaubar sein und ich muss mich spürbar einbringen können, und zwar schon nach relativ kurzer Zeit.
Das Verdienst der Linkspartei
tagesschau.de: Dennoch ist die Beteiligung an Bundestagswahlen im internationalen Vergleich hoch. Warum?
Probst: Hierzulande ist es gelungen, auch relativ junge Parteien zu integrieren; die Grünen zum Beispiel. Wenn es nicht gelungen wäre, sie einzubinden, hätten ihre Themen weiterhin außerhalb des parlamentarischen Systems stattgefunden und sich dort verfestigt. Das ist ein Verdienst auch der Linkspartei, wie immer man sie auch politisch bewertet: Sie hat es geschafft, bestimmte Wählerschichten wieder zum Wählen zu bringen.
"Wahlpflicht halte ich für fatal"
tagesschau.de: Was bedeutet Wahlenthaltung für die Demokratie?
Probst: Wahlen sind wichtig, aber nicht das einzige Kriterium für die Stabilität einer Demokratie. In Russland wird gewählt, im Iran wird gewählt - und trotzdem regieren dort autoritäre Systeme. Wahlen sind ein wichtiges Element, aber auch entscheidend sind Menschenrechte und dass die demokratischen Institutionen funktionieren. Es muss auch das Recht zum Nichtwählen geben. In Belgien und der Türkei gibt es eine Wahlpflicht. Das halte ich für fatal. Die Parteien müssen es schaffen, Wähler zu mobilisieren. Obama hat es vorgemacht.
tagesschau.de: Ist Nichtwählen eine sinnvolle Form des Protests?
Probst: Nein. Es gibt keine Demokratie ohne freie und geheime Wahlen. Generationen von Menschen haben dafür gekämpft, wählen zu dürfen, und in vielen Ländern dieser Welt kämpfen Menschen für dieses Recht noch heute. Wer nicht wählen geht und sich auch sonst nicht an der politischen Gestaltung seines Landes beteiligt, verwirkt das Recht, sich zu beschweren.
Das Gespräch führte Nicole Diekmann, tagesschau.de.