Minderjährige Flüchtlinge von griechischen Inseln gehen am Athener Flughafen zu einem Flugzeug, das sie nach Hannover bringen soll.
Kommentar

Hilfe für Flüchtlingskinder Weniger als ein Feigenblatt

Stand: 18.04.2020 12:17 Uhr

Die Länder der Europäischen Union nehmen nur wenige Flüchtlingskinder aus den Lagern in Griechenland auf. Von 1600 Schutzsuchenden ist längst nicht mehr die Rede. Politiker sollten vor Scham schweigen.

Ein Kommentar von Lothar Lenz, ARD-Hauptstadtstudio

Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Darauf hat Gustav Heinemann hingewiesen, als Bundespräsident Anfang der 1970er-Jahre.

Heute erkennt man die vielbeschworene Wertegemeinschaft der EU daran, wie sie mit den Flüchtlingslagern in der Ägäis umgeht. 40.000 Menschen vegetieren da in engen, verdreckten Zelten, unter katastrophalen medizinischen und hygienischen Bedingungen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Coronavirus sich auch dort verbreitet und die Lager zur Hölle macht.

"Politiker sollten vor Scham schweigen"

Wenn jetzt 50 unbegleitete Kinder aus der Ägäis nach Deutschland kommen - zwölf weitere hat man diese Woche schon nach Luxemburg ausgeflogen -, dann wird es Politiker geben, die das als Akt der Humanität darstellen werden. Sie sollten besser vor Scham schweigen. Denn die Übersiedlung der wenigen Kinder ist noch weniger als ein Feigenblatt einer Europäischen Union, die in ihrer Flüchtlings- und Menschenrechtspolitik praktisch handlungsunfähig ist.

Natürlich ist es tröstlich, dass diese wenigen Kinder jetzt eine Perspektive bekommen. Sie haben Hunger und Durst überstanden, Krieg und Verfolgung erlebt, viele von ihnen sind ernsthaft krank. Jetzt sind sie in Sicherheit.

Aber was sind 50, 60 Kinder im Vergleich zu den mindestens 2000, die noch auf Lesbos leben, auf Chios und Samos? Von den fast 40.000 Erwachsenen gar nicht zu reden. Wo sind die anderen EU-Staaten, die auch Minderjährige aufnehmen wollten - und dann ihre Zusagen mit dem Fortschreiten der Corona-Krise zurückzogen? Wochen- und monatelang haben Behörden und Hilfsorganisationen verhandelt, um wenigstens diese erste Hilfsaktion möglich zu machen. Kein EU-Staat wollte der erste sein, der handelt, geschweige denn der einzige. Es war ein würdeloses Gezerre. Menschenrechte, zerrieben zwischen überbordender Bürokratie und wertlosen Absichtserklärungen.

"Große Koalition in Berlin von Politik der kalten Herzen infiziert"

Die "Politik der kalten Herzen", sie hat auch die Große Koalition in Berlin infiziert. Teile der Unionsfraktion sind nach wie vor skeptisch gegenüber jeder humanitären Geste in der Flüchtlings- und Asylpolitik. 2015, das ist das Schreckgespenst, das durch die Köpfe wabert, als würde schon ein Bekenntnis zur Menschlichkeit auf das Konto der Rechtspopulisten einzahlen.

Etliche deutsche Städte hatten die Courage, zu sagen: Lasst die Kinder kommen, wir haben Platz für sie, bei uns leben Menschen, die sich um sie kümmern. Das ist das, was Heinemann meinte: eine Zivilgesellschaft, die einen Wert hat. Weil sie stark wird, indem sie Schwachen hilft.

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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 18. April 2020 um 17:08 Uhr.