Kinderpsychiater Winterhoff Weitere Medikamente verschrieben
Monitor und SZ liegen interne Listen vor, die belegen, dass der Psychiater Winterhoff Kindern und Jugendlichen Medikamentencocktails verschrieben hat. Darunter sind Kombinationen, die starke Nebenwirkungen und Langzeitfolgen verursachen können.
Sebastian und Thorben sind heute junge Männer, 23 und 24 Jahre alt. Als Teenager lebten sie mehrere Jahre in einer heilpädagogischen Jugendhilfeeinrichtung in der Eifel. Ihre Namen stehen auf den Medikamentenlisten, die dem ARD-Magazin Monitor und der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) zugespielt wurden. Der betreuende Kinderpsychiater des Hauses: Dr. Michael Winterhoff - Medienstar und bekannter Buchautor.
Er behandelte dort nicht nur Sebastian und Thorben, sondern zwischen Ende 2010 und 2014 offenbar viele Heimkinder dauerhaft mit Psychopharmaka. Die Medikamente sollten Kindern helfen, ihre Aggressionen zu kontrollieren und für die Therapie erreichbar zu sein, so Winterhoff. An die Nebenwirkungen erinnern sich die jungen Männer noch heute. "Bei mir waren es definitiv Schläfrigkeit, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, eine Aufmerksamkeitsspanne von einer Fliege quasi", so Sebastian.
Die Einrichtung bestreitet nicht, dass Kinder und Jugendliche die Medikamente bekamen. Einer Stellungnahme des Trägervereins zufolge erhielten aber nicht alle von ihnen Medikamente. Erziehungsberechtigte und Jugendliche müssten mit der Medikamentengabe einverstanden sein. Zudem habe man den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen einmal im Quartal mit Blutbildkontrollen überprüfen lassen.
Das Medikament Pipamperon kann schwere Nebenwirkungen hervorrufen.
Im August hatte eine ARD-Dokumentation aufgedeckt, dass Michael Winterhoff ruhigstellende Neuroleptika mit den Markennamen Dipiperon beziehungsweise Pipamperon als Langzeittherapie bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt hat. Laut Angaben vieler Fachleute wird dieses Neuroleptikum üblicherweise aber eher als Notfallmedikament gegeben, nicht als Langzeittherapie. Michael Winterhoff weist Vorwürfe zu seinen Diagnosen und seiner Therapie zurück. Dipiperon und Pipamperon habe er "nur in Einzelfällen mit spezieller Indikation verordnet". Den Einsatz der Medikamente und ihre Dosierung habe er kinderpsychiatrisch kontrolliert.
Die internen Medikamentenlisten wecken daran neue Zweifel. Sie zeigen, dass Michael Winterhoff offenbar noch mehr Medikamente verschrieben hat als bisher bekannt. Ganze Gruppen von Kindern und Jugendlichen erhielten demnach über Jahre große Mengen an Psychopharmaka. Der bekannte Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Schulte-Markwort kann das nicht nachvollziehen: "Ich bin erschrocken darüber, wie ausgeprägt dieses Ausmaß ist an immer denselben Diagnosen und immer denselben Medikamenten, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie zumindest zu einem Teil und wahrscheinlich zu einem großen Teil nicht indiziert waren."
"Aus therapeutischer Sicht schwer nachvollziehbar"
Die internen Medikamentenlisten legen außerdem nahe, dass Michael Winterhoff bei vielen Kindern die beiden Neuroleptika Dipiperon und Risperdal miteinander kombinierte. Der Pharmakologe Gerd Glaeske von der Uni Bremen sieht das sehr kritisch: "Das ist eine Therapie, die ich gar nicht verstehen kann. Es sind beides Neuroleptika. Sie haben ähnliche Wirkspektren. Sie haben unterschiedliche unerwünschte Wirkungen. Das heißt im Grunde genommen ist es für mich aus therapeutischer Sicht schwer nachvollziehbar, insbesondere die Langzeittherapie solcher Mittel, die nicht mal als Langzeittherapie zugelassen sind."
Konkrete Fragen zu den Listen und der Mehrfachmedikation lässt Winterhoff unbeantwortet. Auf Anfrage von Monitor und SZ teilt er aber über seine Anwälte mit: "Sofern unser Mandant Medikamente verordnet hat, dann erfolgte dies für jedes einzelne Medikament stets, nachdem in einer Untersuchung und Einzelfallentscheidung durch den Mandanten und sein Team (…) unter Einbeziehung des Bezugserziehers, des Erzieherteams und eventuell der Heimleitung sowie der Eltern oder des Vormundes festgestellt wurde, dass bzgl. des Kindes eine entsprechende Indikation vorlag." Die Verordnung von Medikamenten sei zudem "nie isoliert" erfolgt. Sie sei vielmehr "eingebettet in eine umfassende Behandlung, bestehend aus regelmäßigen Untersuchungen und Therapiegesprächen".
Medikamente lösten wahrscheinlich Langzeitsyptome aus
Sebastian bekam in der Jugendhilfeeinrichtung in der Eifel offenbar über Jahre Dipiperon, zeitweise kombiniert mit Risperdal. Heute leidet Sebastian unter Muskelschmerzen, Zittern der Hände und Problemen mit dem Kurzzeitgedächtnis, sagt er. Sein ehemaliger Mitbewohner Thorben arbeitet als Koch in einer Landschlachterei, auch seine Hände zittern regelmäßig. Er würde oft von Leuten gefragt, ob er auf Alkoholentzug sei oder Parkinson habe. "Wenn ich ein Messer in der Hand hab, rutsche ich halt oft ab, dass ich mir dann hier in die Fingerkuppen schneide oder über den Nagel ratsche oder sonst irgendwas."
Laut Pharmakologe Glaeske ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dies Folgen einer langfristigen Einnahme von Neuroleptika sind. "Wir kennen das auch aus anderen Bereichen, wo man relativ kurzfristig solche Neuroleptika gibt und schon nach kurzer Zeit solche Bewegungsstörungen auftreten." Winterhoff möchte sich zu den einzelnen Fällen nicht äußern. Über seine Anwälte teilt er mit: "Eine Beantwortung Ihrer Fragen zu konkreten Patientengeschichten ist nicht möglich. Unser Mandant hält es nicht für sinnvoll, Einzelheiten der Krankengeschichte (vormals) schwer traumatisierter Kinder in der Öffentlichkeit auszubreiten".
Unangemeldete Kontrollen nicht verpflichtend
Es bleibt die Frage, warum die jahrelange Medikation unter den Augen der Behörden möglich war. Trotz regelmäßiger Beschwerden von Kindern, Eltern und Vormündern haben die Behörden offenbar nicht eingegriffen. In den sogenannten Hilfeplangesprächen mit Sorgeberechtigten, Erziehern und dem Jugendamt ist nicht vorgeschrieben, dass die Medikation besprochen werden muss. Auch existiert keine flächendeckende Pflicht zur Dokumentation der Medikamentenvergabe in Jugendhilfe-Einrichtungen, wie das in der Altenpflege gesetzlich festgeschrieben ist. Unangemeldete Kontrollen durch die "Heimaufsicht", also die Landesjugendämter, sind nicht verpflichtend.
Immerhin wurden sogenannte Ombudsstellen, unabhängige Beschwerdestellen, in den meisten Bundesländern eingerichtet, an die sich Kinder, Eltern und Vormünder mit ihren Beschwerden wenden können. Mit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes vom Juni 2021 wurden diese bundesweit eingeführt. Fachleute sehen darin einen Schritt in die richtige Richtung. Es fehle jedoch bislang an ausreichendem Personal. Zudem haben die Ombudsstellen wenig Einfluss, können nichts durchsetzen oder kontrollieren. Sie dürfen die Betroffenen nur beraten und ihnen erklären, an wen sie ihre Beschwerden richten können. Für konkrete Kontrollen oder Maßnahmen sind weiter die Stellen zuständig, die es bislang auch schon waren. Genau die Behörden also, die in der Vergangenheit nicht immer entschlossen gehandelt haben.