
Traumatisierte Bundeswehr-Veteranen Der dritte Krieg
Die Bundeswehr sucht händeringend nach Personal und feilt an ihrem Image. Da passt nicht ins Bild, dass Hunderte traumatisierte Einsatzgeschädigte um Anerkennung und Entschädigung ringen.
"Es ist der Tag, der mein Leben zerstört hat." So urteilt die Sanitäterin Annika Schröder rückblickend über den 2. April 2010. Den Karfreitag. Es ist der Tag, an dem die Bundeswehr in das bislang schwerste Gefecht ihrer Geschichte verwickelt wurde - das Karfreitagsgefecht in Afghanistan. Schröder ist an diesem 2. April Teil einer Krisen- und Notfalleinheit und bekommt den Befehl, das geschützte Lager in Kundus zu verlassen, um den Kameraden zu Hilfe zu eilen, die mit Dutzenden Taliban-Kämpfern im Gefecht stehen.
Die Luftlandesanitäterin rennt durch den Kugelhagel. "Dann gab es einen tierischen Schlag. Das habe ich überhaupt nicht verstanden." Ein Projektil zerfetzt ihren Rucksack, bringt die darin enthaltenen Infusionen zum Platzen. Wäre der Schuss eine Zehntelsekunde früher abgefeuert worden, hätte er die Fallschirmjägerin mitten in die Brust getroffen. "Das hätte ich nicht überlebt." Die damals erst 25-Jährige rappelt sich auf und funktioniert weiter. Drei Mal eilt sie in die sogenannte "Todeszone", wo das Feuergefecht tobt. Muss tote und verletzte Kameraden bergen.
Völliger Zusammenbruch
Wenige Monate später kehrt Annika heim nach Deutschland. Körperlich unversehrt. Doch für ihre Seele gilt das nicht. Schon kurze Zeit später erleidet sie einen völligen Zusammenbruch. Die Diagnose: Verdacht auf Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS. Damit beginnt nach dem Karfreitagsgefecht der eigentliche Kampf der Annika Schröder: Der Kampf gegen die Krankheit in ihrem Kopf und der Kampf gegen die Bundeswehrbürokratie.
Viele Geschädigte würden dies wie einen "dritten Krieg" wahrnehmen, sagt Bernhard Drescher vom Bund Deutscher Einsatzveteranen, der Traumatisierte unterstützt: Erst der Krieg gegen die Taliban, dann der "Krieg im Kopf" und nun der "Verwaltungskrieg". 15 Jahre lang erkannte die Bundeswehr nicht an, dass die Schädigung von Schröder aus dem Afghanistaneinsatz stammt, wollte sie sogar ohne Entschädigung als dienstunfähig entlassen.
Eigener Vorgesetzter als "Feind"
An PTBS leide die Sanitäterin aber nicht, so ein Gutachten im Auftrag der Bundeswehr 2023, das dem NDR vorliegt. Schröder, ausgezeichnet mit der Einsatzmedaille Gefecht und dem Ehrenkreuz, riskierte ihr Leben für die Bundeswehr und fühlte sich jahrelang von ihr im Stich gelassen: "Ich habe dafür unterschrieben, das Land tapfer zu verteidigen und mein Leben für die Kameraden einzusetzen. Dass der Feind einmal mein eigener Vorgesetzter und mein eigener Dienstherr ist, der aus meiner Wahrnehmung alles daransetzt, um mich in den Suizid zu treiben - das habe ich nicht unterschrieben."

Deutschland habe "eines der fürsorglichsten Systeme überhaupt in der Welt", sagt der PTBS-Beauftragte Zimmermann.
Zu Einzelfällen wie dem von Annika Schröder will die Bundeswehr nicht Stellung nehmen. Der PTBS-Beauftragte Peter Zimmermann verteidigt die Versorgung psychisch Erkrankter in der Bundeswehr als beispielhaft. Deutschland habe "eines der fürsorglichsten Systeme überhaupt in der Welt. Wir haben immer mal wieder Menschen, die auch mal durchs Raster fallen, was aber ganz sicher kein böser Systemwille ist."
30 Prozent aller Anträge abgelehnt
Der Fall Annika Schröder ist jedoch kein Einzelfall. Hunderte Traumatisierte haben mit der Bundeswehr um Anerkennung und Entschädigung gerungen - oft vor Gericht, meist jahrelang. 30 Prozent aller Anträge auf Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung wegen psychischer Erkrankungen wie PTBS werden laut NDR-Recherchen abgelehnt.
Allein der bundesweit bei diesen Verfahren führende Rechtsanwalt Arnd Steinmeyer hat nach eigenen Angaben mehrere hundert Fälle pro Jahr auf dem Schreibtisch. "Wir wollen auf der einen Seite Soldaten haben, die für die Gesellschaft in Einsätze ziehen und das Land verteidigen", so der Lüneburger Anwalt. "Dann muss man sich auf der anderen Seite aber auch sehr großzügig um diese Soldaten kümmern und kann sie dann nicht in ganz kleinteilige Verfahren reinlaufen lassen und am langen Arm verhungern lassen."
Risiken bei Nicht-Behandlung
Bundeswehreinrichtungen registrierten nach NDR-Berechnungen seit 2011 knapp 2800 einsatzbedingte PTBS-Erkrankungen. Die Bundeswehr erreicht allerdings mit ihren Behandlungsangeboten selbst nach eigenen Schätzungen nur zehn bis 20 Prozent der PTBS-kranken Einsatzgeschädigten. Damit könne man nicht zufrieden sein, räumt PTBS-Beauftragter Zimmermann im NDR-Interview ein.
Ein besonders krasses Beispiel dafür, was passieren kann, wenn eine PTBS nicht rechtzeitig behandelt wird, ist der Fall von Stefano B. Der Afghanistanveteran hatte schon mehrere Suizid-Versuche hinter sich und seine Frau hatte sich per Mail vergeblich hilfesuchend an die Bundeswehr gewandt, als Stefano B. am 26. Januar 2024 in die Ulmer Innenstadt fuhr.
Er hatte Waffenattrappen dabei und nahm in einem Starbucks-Café 13 Geiseln. Sein Ziel: Sich von einem Sondereinsatzkommando der Polizei erschießen zu lassen - "suicide by cop". Alle Geiseln überlebten, einige nun selbst traumatisiert. Stefano B. wurde schwer verletzt. Er ist mittlerweile zu sechs Jahren Haft verurteilt.
Psychotraumazentren gelten als vorbildlich
Die Bundeswehr hat in ihrem Umgang mit an der Seele Erkrankten einen weiten Weg zurückgelegt. Selbst Kritiker loben die mittlerweile umfassende Gesetzgebung. Die fünf Psychotraumazentren an den Bundeswehrkrankenhäusern gelten als vorbildlich. Doch Gutachtern und Vorgesetzten fehle es noch immer an Wohlwollen und Mitgefühl, klagen Betroffene und Kritiker.
Die Verfahren um Anerkennung zögen sich quälend in die Länge. Wehrdienstbeschädigungsverfahren wegen psychischer Erkrankungen dauern deutlich länger als Verfahren wegen körperlicher Schäden. Durchschnittlich vergehen 22 Monate bis zum ersten Bescheid. Oft folgen Widersprüche und Prozesse, die sich manchmal auch mehr als zehn Jahre hinziehen.
Selbsthilfe als Ausweg
Zu einer sorgfältigen Prüfung jedes Einzelfalls sei man gesetzlich verpflichtet, hält dem der PTBS-Beauftragte Peter Zimmermann entgegen. Er fordert aber auch ein Bewusstsein bei der Bundeswehr, "dass man nie fertig wird, sondern dass man immer wieder anpasst, anpasst, anpasst."
Gerade jetzt ist die Truppe sehr auf Imagepflege bedacht, weil sie wegen der gewachsenen Bedrohung durch Russland Personal sucht. Soldaten erwarten, dass ihr Arbeitgeber sich auch um alle kümmert, die im Einsatz seelischen Schaden genommen haben.
Annika Schröder erzählt, sie sei in den vergangenen Jahren durch die "Hölle" gegangen. Sie habe sich dabei immer wieder selbst helfen müssen. Heute sind es vor allem ihre Tiere, die ihr Halt geben - Hunde, Schweine, Kaninchen - mit denen sie zurückgezogen auf "Annis kleiner Farm" im Norden Sachsens lebt.
Anerkennung nach 15 Jahren
Doch Ende April, einen Tag bevor die Sanitäterin dienstunfähig aus der Bundeswehr entlassen wurde, bekam Annika Schröder einen überraschenden Anruf. Ihre Neubegutachtung habe ergeben, dass sie unter einer PTBS leide und die Erkrankung doch auf den Einsatz zurückgehe. Die Anerkennung im doppelten Sinn, um die Annika Schröder 15 Jahre gekämpft hat, wird ihr nun doch noch zuteil.
"Die Bundeswehr ist ein sicherer Arbeitgeber, aber wir sind das scharfe Ende der Politik", bilanziert sie erleichtert, aber auch nachdenklich. "Wir haben unterschrieben, zur Not mit unserem Leben zu bezahlen und das sollte wirklich auch den jungen Soldaten in aller Konsequenz bewusst sein. Aber vor allem sollte es der Bundeswehr bewusst sein."
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