Ein Augenarzt untersucht eine Patientin.
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Große Augenarztkette Schulung für möglichen Abrechnungsbetrug?

Stand: 09.02.2024 11:59 Uhr

In einer der größten Augenarztketten in Deutschland werden Mediziner nach Recherchen des NDR offenbar dazu angeleitet, überhöhte Rechnungen zu stellen. Aus Sicht von Juristen kann das eine Anstiftung zum Betrug sein.

Von Christian Baars, Ann-Brit Bakkenbüll, Petra Blum und Brid Roesner, NDR

Eine kurze Begrüßung, dann geht es los. In einem Online-Seminar sollen die teilnehmenden Ärzte lernen, wie sie bei Privatpatienten "eine Menge mehr abrechnen können" - so drückt es Kaweh Schayan-Araghi, an einer Stelle aus. Er ist Mitgründer und Ärztlicher Direktor der Artemis Augenkliniken, einer der größten Arztketten in Deutschland, und sitzt unter anderem im Vorstand des Berufsverbands der Augenärzte (BVA). Das Seminar hält er im vergangenen Herbst zusammen mit einer Abrechnungsexpertin aus seinem Unternehmen.

Es geht um viel Geld. Zu Artemis kommen mutmaßlich Zehntausende Privatpatienten. Mit Unterstützung von Finanzinvestoren haben Schayan-Araghi und seine Kollegen ein großes Unternehmen geschaffen - mit mehr als 100 Standorten und etwa 2.000 Angestellten, davon mehr als 300 Ärzten. Und die sollen offenbar dafür sorgen, dass die Einnahmen steigen. Das zeigen Recherchen des NDR.

Panorama-Recherche zu fragwürdigen Abrechnungen bei Augenärzten

A. Bakkenbüll/C. Baars/B. Roesner, NDR, tagesschau, 08.02.2024 17:00 Uhr

Steigerung nur in Ausnahmen zulässig

Schayan-Araghi und die Artemis-Abrechnungsexpertin geben in dem Seminar Hinweise zu mehreren Untersuchungen und Behandlungen. Sie fordern die Ärzte etwa dazu auf, jede OP wegen eines Grauen Stars als besonders aufwändig darzustellen. Man wünsche sich, dass die Ärzte "immer eine Begründung finden, mit der wir den Höchstsatz abrechnen können" - das sind etwa 250 Euro mehr als im Regelfall. Laut Gesetz ist eine solche Steigerung nur in Ausnahmen zulässig und muss deshalb begründet werden.

"Auch wenn Sie es vielleicht nicht als so schwierig empfinden sollten, muss man da ein bisschen kreativ sein", erklärt Schayan-Araghi. Es gebe zur Unterstützung eine "umfassende Sammlung an verschiedensten Steigerungsgründen", in denen die Ärzte mal "ein bisschen stöbern können". "Steigern Sie!", fordert der Ärztliche Direktor die angestellten Mediziner auf. "Das ist so unser Weg, wie wir uns so ein bisschen den Inflationsausgleich holen können."

Schayan-Araghi hat zudem einen speziellen Hinweis zu einer Netzhaut-OP. Für sie gebe es zwei unterschiedliche Abrechnungsziffern, erklärt er. Bei der einen bekäme man 1.000 Euro mehr. Eigentlich ist diese ertragreichere Ziffer für aufwändigere Eingriffe vorgesehen sowie für eine spezielle Methode, die sogenannte "Buckelchirurgie".

"Wir wissen, das machen wir heute kaum noch", sagt Schayan-Araghi. Aber die Ärzte sollen in den OP-Bericht offenbar das Wort "Buckel" unterbringen. Denn darauf würden die Kontrolleure bei den Versicherungen achten. Deshalb sollen die Ärzte eine Eindellung, die bei jeder dieser OPs kurz gemacht wird, als "temporäre Buckelung" bezeichnen. "Dann sieht der Abrechner das Zauberwort 'Buckel' und streicht die 1.000 Euro nicht weg", sagt der Ärztliche Direktor.

"Schnell verdientes Geld"

In dem Seminar geht es auch um eine Reihe von kleineren Beträgen für verschiedene Untersuchungen. Etwa 16 Euro für einen Augentest, der immer bei Privatpatienten gemacht werden solle. Das sei "schnell verdientes Geld", sagt Schayan-Araghi. Das sei zwar ungerecht, "aber wenn es mal zu unseren Gunsten ungerecht ist, dann wollen wir das auch gern ausnutzen".

Ein Arzt, der bei Artemis beschäftigt ist, aber unerkannt bleiben will, berichtet im Interview mit dem ARD-Magazin Panorama, er und seine Kollegen hätten fast alle an solchen Abrechnungsschulungen teilnehmen müssen. Aus seiner Sicht sei es darum gegangen, "die Privatabrechnungen in die Höhe zu treiben". In dem Seminar hätten sie einige fragwürdige Hinweise bekommen - etwa, diesen Sehtest für 16 Euro bei allen Privatpatienten immer zu machen.

"Das ist, wie wenn Sie zum HNO-Arzt gehen, weil die Nase läuft, und der macht jedes Mal einen Hörtest", sagt er. Sie hätten auch erfahren, dass sie mehr als 20 Euro "ganz einfach abrechnen können, wenn wir mit einer Taschenlampe mal kurz ins Auge leuchten". Eigentlich ist dieser Test der Pupillenreaktion laut dem Verband der Privaten Krankenversicherungen Bestandteil einer Pauschale für eine Augenuntersuchung. Aber bei Artemis soll er offenbar extra abgerechnet werden.

Verstoß gegen Berufsordnung?

Das sei "eine Fortbildung zur Gewinnmaximierung", sagt der Medizinrechtler Andreas Spickhoff von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München im Panorama-Interview. "Das ist keine Ausreizung der Gebührenordnung, sondern eine Überreizung." Der Seminarleiter und die teilnehmenden Ärzte, die sich an solche Anweisungen hielten, würden gegen die Berufsordnung verstoßen und könnten ihre Approbation verlieren.

Der Jurist sieht in Teilen der Schulung sogar eine mögliche Anstiftung zu einer Straftat. Sollte tatsächlich so abgerechnet worden sein, würde man dies durch die große Zahl der beteiligten Ärzte "als bandenmäßigen Betrug qualifizieren müssen", sagt Spickhoff. "Und als einen Betrug, der zu einem besonders hohen Schaden geführt hat."

Es sei eine "Riesenschweinerei", dass auf diese Art und Weise "unglaublich viel Geld" gemacht werde, sagt die ehemalige Leiterin der Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Abrechnungsbetrug in Schleswig-Holstein, Dorothea Röhl. Auch sie sieht in dem Seminar eine mögliche Anstiftung zum Abrechnungsbetrug. Aber eine Straftat nachzuweisen sei "wahnwitzig schwierig". Denn letztlich müssten Gerichte jede einzelne Abrechnung prüfen.

Forderung nach stärkeren Kontrollen

Aus ihrer Sicht müssten die privaten Krankenversicherungen stärker kontrollieren sowie die staatlichen Beihilfestellen, die für die in der Regel privat versicherten Beamten einen Teil der Abrechnungen übernehmen. "Denen müsste es auffallen", sagt Röhl, wenn etwa in einer Praxis alle OPs zum Höchstsatz abgerechnet würden.

Die Beihilfestelle in Hessen, wo Artemis seinen Hauptsitz hat, wollte nicht mit dem NDR sprechen. Schriftlich teilte sie mit, sie würde Verdachtsfällen nachgehen und aktuell "automatisierte Prüfregelwerke" entwickeln. Auf die Frage, ob es in den vergangenen Jahren vorgekommen sei, dass eine große Arztkette systematisch höhere Beträge in Rechnung stellen, hat sie nicht konkret geantwortet.

Auch mehrere große Versicherungen haben diese Frage nicht beantwortet, nur allgemein geschrieben, sie würden Rechnungen auf Auffälligkeiten prüfen und bei gravierenden Fällen Ermittlungsbehörden einschalten.

So bleibt unklar, ob Artemis-Ärzte tatsächlich überdurchschnittlich hohe Rechnungen schreiben oder eventuell die Hinweise aus ihrer Zentrale nicht oder nur teils befolgen - und auch, wie es andere große Arztketten handhaben.

Kaweh Schayan-Araghi selbst könnte womöglich Auskunft geben. Denn er ist seit vielen Jahren Mitglied im Vorstand des Berufsverbands der Augenärzte (BVA) und ist erster Vorsitzender des Bundesverbands der Augenchirurgen (BDOC). Allerdings hat er auf eine Anfrage für ein Interview nicht reagiert.

Unternehmen weist Vorwürfe entschieden zurück

Auf schriftlich gestellte Fragen teilte sein Unternehmen Artemis mit, es weise die Vorwürfe entschieden zurück. "Die Artemis-Gruppe handelt in Übereinstimmung mit geltenden Gesetzen." Alle Ärzte seien verpflichtet, sich an die Gebührenordnung zu halten. Die Artemis-Gruppe befolge "jederzeit alle geltenden Abrechnungsbestimmungen einschließlich der GOÄ vollumfänglich".

Ihre eigenen Compliance-Richtlinien sähen "unmissverständlich" vor: "erbrachte Behandlungsleistungen sind korrekt zu dokumentieren". Und laut Artemis entscheiden die Ärzte allein aus medizinischen Gründen, wie Patienten behandelt werden. "Bei der Auswahl der jeweiligen Behandlungsmethodik steht immer und ausnahmslos die effizienteste und wirksamste Methode für eine bestmögliche Patientenversorgung an erster Stelle", so Artemis.

Anmerkung der Redaktion: Die Augenarztkette hat unmittelbar nach Veröffentlichung der Recherche auf die Vorwürfe reagiert. Sie teilt mit, sie habe "keine Kenntnis von etwaigen Unregelmäßigkeiten bei der Erbringung, Dokumentation oder Abrechnung von medizinischen Leistungen." Aber sie nehme die dargestellten Punkte sehr ernst und wolle "die im Raum stehenden Vorwürfe unverzüglich und vollumfänglich aufklären." Dafür sei eine Kanzlei beauftragt worden. Sollten sich die Vorwürfe als zutreffend erweisen, werde Artemis erforderliche Konsequenzen ziehen. Die betroffene Führungskraft sei bereits mit sofortiger Wirkung von allen Aufgaben entbunden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Magazin "Panorama" am 08. Februar 2024 um 21:45 Uhr.