Corona-Entwicklung Warum Vorhersagen schwierig sind
Wie viele Menschen erkranken schwer an dem Coronavirus? Forscher verbreiten dazu unterschiedliche Prognosen. Das Robert Koch-Institut geht aktuell von einer vergleichsweise geringen Zahl aus.
Viele Menschen und Unternehmen fragen sich derzeit, wie schnell sich das Coronavirus weiter ausbreitet - und mit welchen Folgen. In Deutschland ist das Robert Koch-Institut (RKI) für die Überwachung des Krankheitsverlaufs zuständig. Die Bundesoberbehörde veröffentlichte am Freitag, den 20. März einen Fachaufsatz mit verschiedenen "Beispielszenarien" und unterschiedlichen Verläufen - abhängig davon, wie stark die Gegenmaßnahmen mutmaßlich greifen.
Auffällig an dem Bericht ist, dass das RKI annimmt, dass weniger Menschen als bislang vermutet schwer erkranken. Demnach müssen voraussichtlich nur 4,5 Prozent aller Infizierten im Krankenhaus behandelt werden. Nur jeder vierte von ihnen müsse intensivmedizinisch behandelt werden, also etwa 1,1 Prozent aller Infizierten. Zwischen 0,5 und 0,6 Prozent würden versterben.
Mögliche Szenarien weit auseinander
Forscher vom Imperial College in London, die die britische Regierung beraten, gehen von leicht höheren Zahlen aus. Sie schätzen, dass etwa 1,5 Prozent aller Infizierten intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Das würde dann zu einer Sterblichkeitsrate von 0,9 Prozent führen. Zudem gehen die Londoner Wissenschaftler von einer schnelleren Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus im Vergleich zum RKI aus.
Andere Wissenschaftler schätzen die Zahlen noch höher. Die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie hat Anfang dieser Woche eine Stellungnahme zum Covid-19-Ausbruch veröffentlicht. Sie haben darin verschiedenen Szenarien berechnet, bei denen zwei bis sechs Prozent aller Infizierten eine intensivmedizinische Behandlung benötigen.
In den Niederlanden wurde eine Sporthalle in ein provisorisches Aufnahmezentrum für mögliche Corona-Infizierte umgewandelt
Und in der aktuellen Risikoeinschätzung der europäischen Behörde zum Schutz vor Infektionskrankheiten (ECDC) vom 25. März heißt es, dass derzeit in der EU 30 Prozent der bestätigten Erkrankungsfälle im Krankenhaus behandelt werden müssten und etwa vier Prozent intensivmedizinisch. Das ECDC warnt davor, dass Kliniken in vielen Ländern schon bald an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen könnten.
Solide Datenbasis fehlt bisher
Für diese Berechnung macht es natürlich einen großen Unterschied, ob möglicherweise vier Prozent oder nur ein Prozent der Infizierten intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Matthias von der Heiden ist einer der beiden Autoren der RKI-Studie. Auf Anfrage von NDR und WDR teilte er mit, sie hätten für die Berechnung "die am besten für Deutschland geeigneten Werte gewählt und dies auch mit der RKI-Leitung so abgestimmt."
Natürlich sei das eine Annahme, schreibt von der Heiden. Erst mit zunehmenden Fallzahlen in Deutschland bekomme das RKI ein realistischeres Bild, wie die Epidemie in Deutschland tatsächlich verlaufe.
Alle bisherigen Schätzungen haben einen großen Unsicherheitsfaktor. Niemand weiß derzeit, wie viele Menschen tatsächlich schon infiziert sind oder waren - und bei denen dies möglicherweise nicht festgestellt worden ist. RKI-Präsident Lothar Wieler sagte am Mittwoch, dass sein Institut nun eine repräsentative Stichprobe durchführe wolle, um herauszufinden, wie hoch die Dunkelziffer tatsächlich ist.
Bereits viel mehr Infizierte?
Nahezu zeitgleich berichteten viele britische Medien über eine neue Studie von Wissenschaftlern der Universität in Oxford. Die Forscher kommen darin zu dem Schluss, dass die Epidemie in Großbritannien und Italien bereits mindestens einen Monat vor dem ersten dokumentieren Todesfall begonnen habe. Es könne somit sein, dass bereits mehr als 60 Prozent der Bevölkerung infiziert gewesen seien - ohne es zu wissen.
Diese Schlussfolgerung basiert allerdings auf der Annahme, dass wesentlich weniger Menschen im Krankenhaus behandelt werden müssen - nämlich lediglich einer von Tausend Infizierten, also nur 0,1 Prozent. Andere Wissenschaftler kritisierten die Arbeit jedoch umgehend. Sie basiere nicht auf realen Daten, sondern auf Annahmen, die richtig sein könnten oder auch nicht. Auf eine Anfrage an den Hauptautor des Aufsatzes, José Lourenço, hat dieser bislang nicht geantwortet.
Schon mittelfristige Prognosen schwierig
Es zeigt jedenfalls, wie sehr die Prognosen sich unterscheiden können, je nachdem, welche Grundannahmen man heranzieht. Professor Dirk Brockmann arbeitet an der Humboldt-Universität in Berlin und am RKI und entwickelt dort mathematische Modelle zum Ausbruch. Er sagt, es sei letztlich ähnlich wie bei der Wettervorhersage. Mit seriösen und guten Modellen könne man eine Prognose für "vielleicht eine Woche" machen. Alles, was darüber hinaus gehe, sei eher Spekulation. Denn es könnten in dieser Zeit verschiedene Dinge passieren. Und das "weiß niemand", sagt Brockmann.
Deutlich wird in den Studien jedenfalls, wie wichtig es ist, möglichst viele Erkrankte zu isolieren und deren Kontaktpersonen in Quarantäne zu bringen, sodass sie keine anderen Menschen anstecken können. Die größte Herausforderung bestehe darin, dass "eine sehr große Zahl von Menschen gleichzeitig erkranken und damit die verfügbaren Bettenkapazitäten deutlich übertroffen werden", schreiben die RKI-Autoren.
In jedem Fall massive Vorsorge notwendig
Sie raten deshalb zu "maximalen Anstrengungen", um die Epidemie zu verlangsamen. Denn selbst wenn die vom RKI angenommenen niedrigen Zahlen über den Anteil von Schwerkranken und die Ausbreitungsgeschwindigkeit zutreffen, bedeutet das pro einer Millionen Infizierter rund 11.000 Patienten, die auf Intensivstationen behandelt werden müssten. Und im schlimmsten Fall, ohne entsprechende Gegenmaßnahmen, würden in den kommenden Monaten mehrere Millionen Menschen gleichzeitig erkranken.