Russlands Pläne Will sich der Kreml Belarus einverleiben?
Ein internes Strategiepapier des Kreml, das WDR, NDR und SZ vorliegt, beschreibt detailliert Pläne Moskaus für eine schleichende Übernahme des Nachbarlandes Belarus. Westliche Sicherheitskreise halten das Papier für authentisch.
Alexander Lukaschenko ist vergangenen Freitag nach Moskau gereist. Russlands Präsident Wladimir Putin bedankte sich vor laufenden Kameras für den Besuch des Staatschefs von Belarus. Der wiederum entgegnete grinsend: "Als hätte ich nicht zustimmen können."
Lukaschenko gibt sich immer wieder aufmüpfig gegenüber dem Machthaber im Kreml. Dabei ist der Despot von Minsk heute so abhängig von Putin wie nie zuvor. Als 2020 Hunderttausende Menschen gegen ihn auf die Straße gingen, konnte er sich nur mit Hilfe Moskaus im Amt halten. Aber Russland könnte viel weitergehende Pläne mit Belarus haben, nämlich das westliche Nachbarland zu einem Vasallenstaat zu machen.
Das jedenfalls geht aus einem Dokument hervor, das aus der russischen Präsidialverwaltung stammen soll und das eine internationale Recherchekooperation auswerten konnte, zu der neben WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" auch Yahoo News, Delfi Estonia, Kyiv Independent, Expressen, Frontstory.pl, VSQuare, Belarusian Investigative Center und das Dossier Center gehören. Das interne, bislang nicht öffentlich bekannte Strategiepapier soll aus dem Sommer 2021 stammen und ist 17 Seiten lang.
Schrittweise Übernahme der Kontrolle
Es skizziert den Plan für eine schleichende Annexion der bislang unabhängigen europäischen Nation Belarus durch Russland. Und zwar mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln. Detailliert wird beschrieben, wie Russland schrittweise die Kontrolle über Belarus erlangen könnte. Mit dem Endziel der Schaffung eines sogenannten Unionsstaates - spätestens im Jahr 2030.
Das Vorhaben eines "Unionsstaates" existiert seit 1999, wie weitreichend diese Pläne seitens Russlands gehen sollen, war bislang nicht bekannt. Bislang war das Thema "Unionsstaat" immer als ein Zusammenschluss in beidseitigem Interesse kommuniziert worden. In dem Papier geht es nun nur noch um den Vorrang russischer Interessen.
Marionette Moskaus
Das Strategiepapier sagt klar, was der Zweck ist: die "Sicherstellung des vorherrschenden Einflusses der Russischen Föderation in den Bereichen Gesellschaft, Politik, Handel, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Kultur und Information". Der westliche Einfluss solle zurückgedrängt und ein Bollwerk gegen die NATO geschaffen werden. Auch soll die Verfassungsreform, die im Februar 2022 beschlossen wurde, nach russischen Bedingungen vollendet werden. Prorussische Eliten sollen auch in der Wirtschaft, Forschung und der Zivilgesellschaft installiert werden.
Aus dem Dokument geht außerdem hervor, dass Russland offenbar seine Militärpräsenz in Belarus ausbauen möchte. So soll ein gemeinsames Kommandosystem über die Streitkräfte geschaffen werden. Zudem soll das belarusische Kernkraftwerk künftig in das Stromnetz des neu geschaffenen "Unionsstaates" integriert werden. Frachtschiffe mit Waren aus oder für Belarus sollen keine baltischen oder polnischen, sondern nur noch russische Häfen anfahren. Es sollen darüber hinaus russische Schulen und Universitäten in Belarus gebaut und belarusische Kinder zu Schulungen in patriotische Zentren nach Russland geschickt werden.
"Russlands Ziel ist es, Belarus in eine Marionette zu verwandeln, um es so eng an sich zu binden, sodass Belarus unter jeder Regierung oder jedem Präsidenten, selbst nach Lukaschenkos Abgang, in der Sphäre der geopolitischen Kontrolle Russlands bleiben würde", sagt der belarusische Politikwissenschaftler und Historiker Valery Karbalevich. Ein Zusammenschluss beider Staaten würde jedoch "die Existenz von Belarus als unabhängiger Staat" beenden.
Großrussland als Ziel
Das interne Strategiepapier soll aus einer Unterabteilung der russischen Präsidialverwaltung stammen, der Direktion "Grenzübergreifende Zusammenarbeit", die vor fünf Jahren gegründet wurde. Aufgabe dieses Bereiches soll es sein, Strategien zu entwickeln, wie Russland seinen Einfluss und die Kontrolle über seine Nachbarländer ausbauen kann. Etwa über das Baltikum, die Ukraine - oder eben Belarus.
Mehrere Quellen in westlichen Geheimdiensten schätzen das Dokument als authentisch und plausibel ein. Die Strategie müsse man als Teil eines größeren Plans sehen - ein sogenanntes Großrussland herzustellen.
Das Dokument ist in zwei Abschnitte eingeteilt. Zunächst werden die strategischen Ziele Russlands in Belarus aufgelistet, und zwar kurzfristig bis 2022, mittelfristig bis 2025 und langfristig bis 2030. Die Ziele wiederum sind jeweils in vier Bereiche gegliedert: politisch, militärisch und Verteidigungssektor, den gesellschaftlichen Sektor sowie Wirtschaft und Handel. Anschließend beschreibt das Dokument die mit den Zielen verbundenen Risiken. Dem Kreml dürfte klar sein, dass die kurzfristigen Absichten angesichts des Verlaufs des Ukraine-Krieges derzeit nicht alle realistisch sind.
Der Gesamtplan ist jedoch nach Einschätzung westlicher Geheimdienste nicht obsolet. In dem Kreml-Papier wird etwa ein vereinfachtes Verfahren für die Ausstellung russischer Pässe für belarusische Staatsbürger vorgeschlagen. Eine Strategie, die auch anderenorts, etwa im Osten der Ukraine oder in der von Georgien abtrünnigen Region Abchasien bereits umgesetzt wurde, um Moskaus Einfluss zu erweitern und die nationale Souveränität von Staaten zu unterminieren.
Russisches Militär in Belarus
Die Ausweitung russischer Militärpräsenz in Belarus wird laut dem Papier ebenfalls angestrebt. Vieles davon wurde im Zuge des Krieges gegen die Ukraine bereits realisiert. Machthaber Lukaschenko hatte bisher eine dauerhafte Präsenz russischer Truppen auf belarusischem Boden immer zu verhindern versucht. Seit Oktober 2022 aber halten sich in Belarus Tausende russische Soldaten auf, werden teilweise dort ausgebildet. Die Streitkräfte von Belarus und Russland üben eine gemeinsam koordinierte Kampfführung.
Auch wirtschaftlich wächst der Einfluss tatsächlich weiter. Zwar war Belarus schon immer auf Russland angewiesen. Nach Experteneinschätzungen könnten jedoch bald bis zu zwei Drittel belarusischer Exporte nach Russland gehen. Wegen der internationalen Isolation und der Sanktionen hat Belarus zudem viele Handelspartner verloren.
Besonders auffällig ist die Entwicklung im Bereich der Medien. Seit der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist die belarusische Propaganda ganz auf Kurs mit der russischen. Staatliche Medien verbreiten Hass auf die Ukraine und befeuern das Bild vom "kriegstreiberischen Westen".
Auch kommt Lukaschenkos Kampf gegen die belarusische Sprache und Kultur den russischen Plänen zugute. Wer eine Stadtführung auf belarusisch abhält, riskiert schon jetzt mindestens eine Festnahme. Die belarusische Sprache verschwindet immer mehr aus dem Alltag. Das scheint ganz im Sinne des Kreml zu sein. Dieser strebt laut des internen Strategiepapiers bis 2030 an, dass die russische Sprache die belarusische aus dem Amtsgebrauch verdrängt haben soll.
Der belarusische Historiker Valery Karbalevich hält einen schnellen Zusammenschluss seines Landes mit Russland derzeit für eher unwahrscheinlich. "Ich glaube nicht, dass Lukaschenko sich dafür entscheiden wird, trotz all seiner Abhängigkeit von Russland. Auch die belarusische Gesellschaft ist nicht bereit für die Vereinigung", so Karbalevich. "Alle Institutionen sind so konzipiert, dass sie wie die eines unabhängigen Staates funktionieren."
Tatsächlich dürfte auch der Machthaber in Minsk eher wenig Interesse daran haben, dass der Plan des Kreml vollständig umgesetzt wird. Vertrauen, so westliche Geheimdienstkreise, hätten beide Männer bis heute nicht zueinander. Im Gegenteil: Jeder warte, bis der andere stirbt.