Fahndungsfotos von Josef Mengele

Arzt im KZ Auschwitz-Birkenau Polizeiakte enthüllt neue Details über Mengele

Stand: 06.05.2025 13:24 Uhr

Der NS-Verbrecher Josef Mengele konnte jahrzehntelang in Argentinien und Brasilien in Freiheit leben. Eine bislang verschollene Polizeiakte zeigt nun, wie er sich der Strafverfolgung entziehen konnte.

Von Christian Bergmann, MDR

Reporter von MDR investigativ haben im Rahmen einer Recherche eine bislang als verschollen geltende Polizeiakte über den NS-Verbrecher Josef Mengele aufgespürt. Die Dokumente, die offensichtlich aus dem Archiv der argentinischen Bundespolizei stammen, enthalten brisante Hinweise auf Mengeles Aufenthalte nach dem Zweiten Weltkrieg - und erweitern bisherige Erkenntnisse über seine Flucht und das internationale Fahndungsinteresse. Die Akte soll nach MDR investigativ-Information im Jahr 2002 aus dem Archiv verschwunden sein.

Aus den Dokumenten geht hervor, dass Josef Mengele im Februar 1959 in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollte. So findet sich in der Akte ein entsprechender Antrag an die argentinischen Behörden, der bislang nicht dokumentiert war.

Polizeiakte von Josef Mengele

Die Akte gibt Aufschluss darüber, wie Mengele sich der Strafverfolgung entziehen konnte.

"Akte erweitert unseren Kenntnisstand"

Der renommierte Zeithistoriker und NS-Forscher Bogdan Musial hat Kopien der Akte eingehend geprüft und bewertet sie als authentisch. "Diese Akte erweitert unseren Kenntnisstand. Es zeigt sich, dass mehrere Staaten offenbar über genauere Hinweise verfügten als bisher angenommen."

"Was interessant ist, ist dass er im Februar 1959 diese Reise nach Westdeutschland beantragt und das mit seinem richtigen Namen. Wir wissen, dass es diese Gerüchte gab, wir wissen auch, dass 1959 sein Vater krank war. Das passt. Und hier ist bestätigt, dass er die Absicht hatte hinzufahren als Josef Mengele. Das zeigt, dass er sich sicher fühlte. Er sagte, seine Identität ist echt, ich fühle mich sicher und fahre sogar nach Deutschland, um meinen Vater zu besuchen." Bisher habe es dazu nur unbestätigte Zeugenaussagen gegeben, so Musial gegenüber MDR Investigativ.

Bogdan Musial

Historiker Musial: Akte zeigt, dass Mengele sich sicher fühlte.

Auf die Frage, ob Mengele tatsächlich noch einmal in Deutschland gewesen ist, teilte das Auswärtige Amt gegenüber MDR investigativ mit: "Dem Auswärtigen Amt liegen keine Informationen darüber vor, ob Josef Mengele tatsächlich in die Bundesrepublik Deutschland gereist ist."

Selektionen und grausame Experimente

Der Zweite Weltkrieg ist vor fast genau 80 Jahren - am 8. Mai - zu Ende gegangen. Zudem bedeutet dieses Datum, das Ende des Holocausts - dem Mord an sechs Millionen Juden. Im Zentrum davon: Auschwitz-Birkenau. Dort wurden über eine Millionen Menschen getötet. In diesem KZ wirkte Mengele als Lagerarzt.

Mengele war für die Selektion verantwortlich, das heißt, er wählte unter den Häftlingen aus, wer arbeiten oder seinen medizinischen Versuchen dienen musste, durfte leben, die übrigen wurden sofort getötet. Berüchtigt war Mengele für seine Experimente an Zwillingen.

Anfang 1945 wurde das Konzentrationslager von der Roten Armee befreit. Kurz darauf tauchte Mengele unter. Bereits im Mai 1945 wurde er von den Alliierten wegen Massenmords zur Fahndung ausgeschrieben. Wie viele andere NS-Verbrecher nutzte er das Chaos der Nachkriegszeit und floh 1949 nach Argentinien.

Wer hat Mengele in Argentinien den Tipp zur Flucht gegeben?

Zahlreiche gesuchte NS-Verbrecher flohen nach Südamerika. Argentinien konzentrierte sich - wie viele westliche Staaten - früh auf den Kampf gegen den Kommunismus. Nazis galten als willkommene Verbündete. "Alle Regierungen der damaligen Zeit nahmen deutsche Wissenschaftler auf", sagt Ariel Gelblung vom Simon-Wiesenthal-Center in Buenos Aires. Seine Organisation sucht weltweit nach untergetauchten NS-Tätern. "Argentinien wollte das Gleiche tun."

Ariel Gelblung

Nazis galten nach dem Zweiten Weltkrieg als willkommene Verbündete, sagt Ariel Gelblung vom Simon-Wiesenthal-Center.

Bis heute ist unklar, ob Mengele in Argentinien tatsächlich wissenschaftlich tätig war. Finanziell war er abgesichert - seine wohlhabende Familie unterstützte ihn. Er lebte komfortabel in einer Villa in einem der besten Viertel von Buenos Aires. Es gab offenbar keinen Anlass zur Flucht.

Doch Mengele soll Ende der 1950er-Jahre einen Hinweis erhalten haben, dass man ihm auf der Spur sei. Er war Teil eines Netzwerks ehemaliger Nazis, die sich gegenseitig unterstützten. Während er sich 1959 nach Paraguay absetzte, blieb Adolf Eichmann - einer der Hauptorganisatoren des Holocaust - in Buenos Aires.

Eichmann wurde das zum Verhängnis. Der israelische Geheimdienst Mossad spürte ihn auf, entführte ihn und brachte ihn nach Israel, wo er vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Josef Mengele dagegen konnte in Freiheit weiterleben - zunächst in Paraguay, später in Brasilien.

Der Inhalt der Polizeiakte: Reiseaktivitäten und Hinweise

MDR Investigativ konnte sie bei einem Sammler sichten und fotografieren: "Diese Dokumente stammen aus den Beständen der argentinischen Bundespolizei", sagt der Sammler, der anonym bleiben möchte. "Hier steht geschrieben, wie die Dinge passiert sind, mit genauen Fakten und Daten."

Die Akte war nach Informationen von MDR Investigativ vor über 20 Jahren verschwunden. Doch warum blieb sie so lange verborgen? Die Polizei wollte sich offenbar selbst schützen, erklärt Professor Daniel Feierstein vom Center for Genocide Studies in Buenos Aires überzeugt. "Vor der Entführung von Eichmann haben die Deutschen erstmals Informationen nach Argentinien geschickt und um Josef Mengeles Auslieferung gebeten." Doch als die argentinischen Sicherheitskräfte eintrafen, war Mengele bereits geflohen.

"Er wurde sogar zweimal gewarnt", sagt Feierstein. Es bestehe der Verdacht, dass die Hinweise aus Polizeikreisen selbst kamen. Eine interne Untersuchung sei eingeleitet worden. "Diese interne Untersuchung war geheim und wurde aus den Akten entfernt."

Der Umgang der deutschen Behörden mit Mengele

In verschiedenen Archiven in Buenos Aires gibt es nach Recherchen von MDR Investigativ keine Kopien der aufgespürten Polizeiakte. Aber es finden sich identische Textauszüge in anderen Dokumenten - ein Beleg, dass die Akte offenbar echt ist.

Aus Akten des deutschen Außenministeriums geht hervor, dass die Bundesrepublik erst Ende 1959 einen Auslieferungsantrag an Argentinien für Mengele stellte. Drei Jahre zuvor hatte er noch mit seinem echten Namen in der deutschen Botschaft einen Reisepass beantragt.

Argentinische Polizei kannte offenbar Mengeles Aufenthaltsorte

Aus der Akte geht außerdem hervor, dass die argentinische Polizei offenbar bereits im Januar 1960 informiert wurde, dass Mengele nach Paraguay geflohen war. "Das ist interessant, dass Argentinien gewusst hat, wo er ist. Das wusste ich auch nicht", sagt Experte Musial.

Noch im selben Jahr floh Mengele weiter nach Brasilien. Aus der Akte geht hervor, dass die brasilianische Polizei bereits ab 1963 alle Daten über Mengele, wie Fingerabdrücke und Fotos, von der argentinischen Polizei anforderte. Offenbar hatte die brasilianische Polizei den konkreten Verdacht, dass sich Mengele im Land aufhielt.

Kritiker werfen Deutschland mangelhafte Aufarbeitung vor

Doch was wussten die Behörden in Deutschland? Der Auslandsgeheimdienst BND hatte mit Unterstützern von Mengele zusammengearbeitet und gibt bis heute nur sehr eingeschränkt Akten dazu frei. Auf Anfrage teilt der Bundesnachrichtendienst mit: "Zu Akten über (…) Kriegsverbrecher oder NS-Belastete in Südamerika gab es bereits Akteneinsichten durch Wissenschaftler und Medienschaffende. Es lässt sich nicht pauschal beantworten, wann welche Akten freigegeben werden (…)."

Kritiker werfen dem Staat bis heute vor: Die Aufarbeitung der Zusammenarbeit und die Verbindungen zu NS-Kriegsverbrechern sei mangelhaft - oder sogar, dass der deutsche Staat versagt habe.

Da widerspricht allerdings Historiker Musial: "Versagen würde bedeuten, wenn der Staat wirklich hätte verfolgen wollen. Doch bei Mengele ist zu sehen, dass der Wille eigentlich nicht da war." Deshalb habe der Staat nicht versagt. "Im Gegenteil: Sie hatten Erfolg damit. Denn das Ziel war eben, nicht zu verfolgen."

Mengele lebte bis zu seinem Tod 1979 unter falschem Namen in Brasilien. Erst 1985 wurde sein Grab entdeckt. Die wiederentdeckte Polizeiakte wirft nun neue Fragen auf - zur Mitverantwortung von Argentinien, Brasilien und Deutschland bei der gescheiterten Verfolgung eines der grausamsten NS-Verbrecher.

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