Tschentscher zu Corona-Beschlüssen "Klare Standards für Hotspots"
Zähe Gespräche und doch kein großer Wurf? Hamburgs Bürgermeister Tschentscher verteidigt die Corona-Beschlüsse gegen Kritik. Zumindest gebe es jetzt bundesweite Standards für Hotspots, sagt er im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Die Erwartungen an die Gespräche im Kanzleramt waren riesig, ein Treffen von "historischer Dimension" sollte es sein. War das jetzt der große Wurf im Kampf gegen die zweite Infektionswelle?
Peter Tschentscher: Die "historische Dimension" ist eine Einordnung der Bundeskanzlerin. Wir haben seit einigen Wochen die Erkenntnis, dass wir in eine kritische Phase der Pandemie kommen. Deshalb war es wichtig, jetzt konkret festzulegen, was jeweils passieren muss, sobald die Zahl der Neuinfektionen bestimmte Werte übersteigt.
tagesschau.de: Aber es bleibt das Bild der Uneinheitlichkeit ...
Tschentscher: Das mag auf den ersten Blick so scheinen. Wir haben aber einheitliche Grundsätze in ganz Deutschland. Und auch über die zusätzlichen konkreten Maßnahmen ist gestern sehr einvernehmlich entschieden worden - bis auf den strittigen Punkt des Beherbergungsverbots. Zu dieser Frage haben wir kontrovers diskutiert, aber die anderen sieben Seiten des Beschlusstextes sind einvernehmlich. Daher sehe ich mittlerweile insgesamt ein einheitliches Bild. Wir wollten auch die klare Botschaft senden, dass es jetzt wirklich ernst ist und wir vor allem in den Hotspots gemeinsam mit wirksamen Beschränkungen vorgehen müssen.
tagesschau.de: Diese Beschlüsse gab es aber doch vielerorts schon - Sperrstunde in Hotspots, Alkoholverbote ...
Tschentscher: Vielerorts schon, aber wir haben jetzt klare Standards für alle großen Städte und Hotspots. Und ich bin froh, dass Hamburgs strenge Sicht auf die Pandemie nun überall in Deutschland geteilt wird.
tagesschau.de: Sie sind ja nicht nur Politiker, sondern auch Mediziner. Ihre Einschätzung: Reichen diese Maßnahmen angesichts der stetig steigenden Neuinfektionen?
Tschentscher: Sie sind jedenfalls sehr wirksam und darauf gerichtet, dass wir einen zweiten Lockdown verhindern. Das ist unser gemeinsames Ziel. Wir wollen nicht eine Situation wie in Frankreich oder den Niederlanden erleben. Deshalb müssen wir jetzt einschreiten, solange wir die exponentielle Infektionsdynamik noch stoppen können. Genau das ist der Sinn dieser Beschlüsse. Ob sie ausreichen, sehen wir in den kommenden zwei Wochen. Wenn nicht, müssen wir weitere Entscheidungen treffen.
"Wir sitzen alle in einem Boot"
tagesschau.de: Diese zweite Infektionswelle ist ja nicht überraschend über uns gekommen. Anders als im März war die Entwicklung für den Herbst absehbar und damit planbar. Warum besteht weiterhin der Eindruck, dass die Pandemiebekämpfung in Deutschland chaotisch bleibt?
Tschentscher: Wir sind in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern bisher sehr gut durch die Pandemie gekommen. Aber es gibt eben eine heterogene Lage. Wir haben Bundesländer, in denen die Infektionszahlen noch sehr niedrig sind. In Hamburg als zweitgrößte Stadt Deutschlands liegen unsere Zahlen weitaus niedriger als in den meisten anderen Großstädten. Aber es nützt ja nichts: Wir sitzen in Deutschland alle in einem Boot und die Pandemie wird uns überall erreichen, wenn wir nicht konsequent dagegen vorgehen.
Deshalb haben wir uns jetzt auf einheitliche Standards verständigt: Ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche müssen überall konsequente Kontaktbeschränkungen erfolgen, private Feiern auf zehn Personen beschränkt und eine Sperrstunde in der Gastronomie eingeführt werden - das sind wirksame und wichtige Maßnahmen. Sie gelten jetzt verbindlich für ganz Deutschland.
tagesschau.de: Die Unzufriedenheit der Kanzlerin teilen Sie also nicht?
Tschentscher: Auch die Kanzlerin hat erklärt, dass sie die gemeinsamen Beschlüsse von Bund und Ländern "ausdrücklich sehr gut findet". Wenn man aber acht Stunden über ernste Themen spricht und es unterschiedliche Sichtweisen aus den Ländern zu einzelnen Fragen gibt, dann gibt es eben auch mal Phasen, in denen etwas offensiver gesprochen wird. Der einzige Punkt, in dem es bisher keine einheitliche Linie gibt, sind die innerdeutschen Reise- und Beherbergungsregelungen. Dazu wollen wir im November eine Lösung finden, wenn wir den Verlauf der Herbstferien in allen Bundesländern beurteilen können.
"Beherbergungsverbot hat begrenzte Wirkung"
tagesschau.de: Warum konnte man sich nicht darauf einigen, das Beherbergungsverbot zu kippen? Frei nach dem Motto: Da haben wir jetzt Mist gebaut, die Regelung versteht kein Mensch, sie schadet der Akzeptanz der Corona-Maßnahmen insgesamt. Das kassieren wir wieder ein.
Tschentscher: Weil es einige Bundesländer gibt, die das nicht so sehen. Ich halte das Beherbergungsverbot für problematisch, weil der Nutzen gering ist und es zu vielen Verwerfungen im praktischen Leben führt. Es gibt rund fünf Millionen Menschen in der Metropolregion Hamburg. Wir haben weniger als 30.000 Übernachtungen pro Tag, aber über 300.000 Menschen, die morgens in die Stadt ein- und abends wieder auspendeln. Ein Beherbergungsverbot, das ja nur für Urlauber gilt, hat da eine sehr begrenzte Wirkung.
tagesschau.de: Einige Bundesländer setzen es daher ja auch nicht um. Das könnte Hamburg ja auch tun.
Tschentscher: Wir halten uns an die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz, um die heterogene Lage im Land nicht zu verstärken. Bisher gehört dazu das Beherbergungsverbot für Touristen aus Risikogebieten. Daher gilt die Regelung bei uns derzeit und wir werden sie auch noch bis zum vereinbarten Termin im November aufrecht erhalten.
tagesschau.de: Und im November ist dann Schluss damit?
Tschentscher: Ich hoffe jedenfalls, dass wir dann zu einer vernünftigen Regelung kommen und die Mobilität an den richtigen Stellen beschränken. Ich bin zum Beispiel für eine strenge Quarantäneregelung bei Auslandsreisen, denn wir sind umgeben von Ländern mit einer vielfach höheren Corona-Inzidenz als in Deutschland.
tagesschau.de: Erwarten Sie, dass mit den jetzigen Beschlüssen die Zahl der Neuinfektionen wieder sinkt?
Tschentscher: Das Ziel ist erstmal, dass die Zahl der Neuinfektionen nicht weiter stark ansteigt und wir auf ein stabiles Niveau kommen. Darum geht es jetzt. Wir können das Virus nicht wegbekommen, aber wir müssen seine exponentielle Ausbreitung verhindern. Das ist jetzt noch besser möglich als zu einem späteren Zeitpunkt, wie die Berichte aus den europäischen Nachbarländern zeigen.
Das Gespräch führte Wenke Börnsen, tagesschau.de