Übergriffe in der Silvesternacht Diskussion über "gescheiterte Integration"
Die nächste Silvesternacht soll anders laufen, fordern Politiker. Umstritten ist, welche Rolle Integrationsbemühungen dabei spielen. Die Polizei veröffentlichte derweil Zahlen zur Nationalität der Verdächtigen.
Nach den Angriffen auf Polizei und Rettungskräfte in der Silvesternacht in Berlin nimmt die politische Debatte über die Ursache für die Gewalt weiter Fahrt auf. Dabei geht es auch um eine vermeintlich gescheiterte Integrationspolitik. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte einen Runden Tisch mit Politikern und Praktikern sowie neue Ansätze in der Integrationspolitik.
"Wir brauchen diese Debatte sofort, und wir brauchen Ergebnisse, klare Konzepte und einen Plan, wer was umzusetzen hat", sagte der GdP-Bundesvorsitzende, Jochen Kopelke. Eine Einsatznacht mit schockierenden Vorfällen wie in der Nacht auf Sonntag dürfe sich zum nächsten Jahreswechsel nicht wiederholen: "Somit ist der Zeitrahmen gesetzt".
Verdächtige aus 18 Nationen
In der Nacht zum Neujahrstag waren in mehreren Städten Polizisten und Feuerwehrleute im Einsatz angegriffen worden, unter anderem mit Böllern und Raketen. Noch nicht bekannt ist, wie viele der 41 im Einsatz verletzten Polizisten zeitweise dienstunfähig waren. Ein Polizist, der schwere Brandverletzungen erlitten hatte, wurde nach Angaben eines Behördensprechers inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen.
Im Zusammenhang mit den Krawallen hatte die Polizei 145 Menschen festgenommen - zunächst hatte sie von 159 Festgenommenen berichtet, die Zahl aber später korrigiert. Erstmals machte die Polizei nun auch Angaben zu der Herkunft der mutmaßlichen Täter. Demnach haben sie 18 verschiedene Staatsangehörigkeiten. Die meisten - 45 Tatverdächtige - seien Deutsche. Danach folgten 27 Verdächtige afghanischer Nationalität und 21 Syrer.
Alle Verdächtigen wurden inzwischen wieder freigelassen. Die meisten von ihnen sind Männer.
Spahn macht "gescheiterte Integration" verantwortlich
Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Spahn machte eine gescheiterte Integrationspolitik mitverantwortlich für die Eskalation. "Da geht es eher um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat statt um Feuerwerk", sagte Spahn dem Portal "t-online".
Die Deutsche Polizeigewerkschaft forderte eine Untersuchung zur Herkunft der Täter. Viele der Angreifer stammten aus dem "Migrantenmilieu", sagte Gewerkschaftschef Rainer Wendt gegenüber "Focus Online". Bei vielen Einsatzkräften herrsche nach der Silvesternacht der Eindruck vor, dass "Gruppen junger Männer mit Migrationshintergrund bei diesen Ausschreitungen weit überrepräsentiert" seien.
Mansour: "Pure Lust an Gewalt"
Die Gewalt habe verschiedene Ursachen, so der Sozialpsychologe Ulrich Wagner. Bei Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund sei eine mögliche Erklärung, dass Integration und Partizipation noch nicht gut gelungen seien, erklärte Wagner dem rbb-Inforadio. Dies liege dann auch an der Qualität der Angebote zur gesellschaftlichen Teilhabe.
Oft spiele Alkohol eine Rolle sowie eine Stimmung zwischen Heiterkeit und Aggression, sagte der Sozialpsychologe der Universität Marburg. Diese wende sich dann als eine Mischung aus "Attacke und Scherz" gegen die Rettungskräfte. Zugleich verwies Wagner auf einen insgesamt rückläufigen Trend beim Thema Gewalt. Spezifische Gewaltformen - wie etwa die auf Einsatzkräfte beim jüngsten Jahreswechsel - nähmen aber zu.
Es gehe bei dem Thema auch um Jugendkultur, bekräftigte Ahmad Mansour, Psychologe und Autor, im Interview mit tagesschau24. Bei den Verdächtigen handele es sich um Menschen, die ihre Männlichkeit so verstehen und so ausleben wollten, dass sie bereit seien, auch Gewalt anzuwenden. "Es war pure Lust an Gewalt", sagte Mansour. "Es hat aber auch mit patriarchalischen Strukturen zu tun, die dazu führen, dass diese Menschen unseren Rechtsstaat, unsere Polizei, unsere Rettungskräfte als etwas Schwaches wahrnehmen, das man attackieren darf."
GdP: Integrationspolitik neu angehen
In vielen Fällen hätten "gruppendynamische Prozesse, Alkoholmissbrauch, Sozialisationsdefizite und die Verfügbarkeit pyrotechnischer Gegenstände zu dieser bestürzenden Eskalation" geführt, sagte der GdP-Vorsitzende Kopelke. Gleichzeitig warnte er davor, "Menschen pauschal abzustempeln und als verloren zu erklären".
Menschen in den betroffenen Stadtteilen müssten die Übergriffe verurteilen und Wege finden, solche Taten in Zukunft zu verhindern. Die Polizei könne hier beraten, lösen könne sie die Probleme jedoch allein nicht. Der GdP-Chef forderte: "Die Bundesregierung muss ihrem Koalitionsvertrag gerecht werden und Integrationspolitik auf Bundesebene neu angehen."
Balci: Häusliche Gewalt als Alltag
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: "Wir müssen die Täter anhand ihrer Taten beurteilen, nicht anhand ihrer vermuteten Herkunft, wie dies nun einige tun."
Die Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Neukölln, Güner Balci, sagte im Deutschlandfunk, in Großstadtvierteln "mit schwierigen sozialen Problemlagen" sei zu beobachten, "dass wir Kinder und Jugendliche haben, die mit häuslicher Gewalt als Alltag aufwachsen". Diese Jugendlichen seien zwar auch in diesen Vierteln nur eine Minderheit, "allerdings reicht ein Einziger, um ein ganzes Haus zu terrorisieren".
Der Bürgermeister des besonders betroffenen Berliner Bezirks Neukölln, Martin Hikel, geht zwar davon aus, dass es sich bei der Mehrheit der mutmaßlichen Täter um junge Männer mit Migrationshintergrund handelt. Das allein sei aber nicht der Punkt, so der SPD-Politiker: "Denn man muss sich vor Augen führen, dass auch die Betroffenen dieser Gewalt Menschen aus dem Quartier sind, also auch oft Menschen mit Migrationshintergrund", sagte Hikel.