Interview

Interview mit ARD-Rechtsexperten "Bei Sicherungsverwahrung ist Gesetzgeber am Zug"

Stand: 13.01.2010 15:38 Uhr

Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung eines gefährlichen Sexualtäters sind viele Bürger empört. ARD-Rechtsexperte Karl-Dieter Möller erklärt, warum das Gericht nicht anders entscheiden konnte und was als nächstes geschehen müsste.

tagesschau.de: Obwohl Gutachter den Sexualtäter als gefährlich einstufen, bleibt er frei. Wie haben die Richter dies begründet?

Karl-Dieter Möller: Wenn man das Urteil auf seinen Kern reduziert, haben die Richter gesagt: 1995, als der Täter zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde wegen schwerster Sexualstraftaten, da hat man von seiner Gefährlichkeit gewusst. Die Gefährlichkeit ist damals von einem Gutachter bestätigt worden. Damals ordnete das Gericht dennoch keine Sicherungsverwahrung an.

Nach 14 Jahren, in denen der Täter seine volle Haftstrafe abgesessen hatte, kam der Antrag zur nachträglichen Sicherungsverwahrung. Gutachter prüften erneut und haben wieder einen Hang zur Gefährlichkeit festgestellt. Das Landgericht München entschied dann - und der Bundesgerichtshof hat sich dem angeschlossen - dass man dies bei der Urteilsverkündung schon wusste. Das waren also keine neuen Tatsachen, die eine nachträgliche Sicherungsverwahrung rechtfertigen würden.

tagesschau.de: In welchen Fällen kann eine nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängt werden?

Möller: Das Gesetz verlangt genau diese neuen Tatsachen: In unserem Fall zum Beispiel, wenn sich im Strafvollzug herausgestellt hätte, dass der Täter seine Opfer erneut verfolgen und vielleicht sogar umbringen will. Wenn sich also eine Gefahr für die Allgemeinheit ergeben hätte. Dies aber war nicht der Fall.

tagesschau.de: Der Täter hatte während seiner Haft eine Therapie immer abgelehnt. Waren das nicht "gravierende neue Umstände", die eine nachträgliche Sicherungsverwahrung hätten rechtfertigen können?

Möller: Nein, der Bundesgerichtshof - und auch das Bundesverfassungsgericht hat dies in anderen Fällen schon so gesehen - hat gesagt: Die Verweigerung einer Therapie ist zwar ein Indiz, aber sie kann nicht dazu führen, dass man jemanden in die Sicherungsverwahrung nimmt. Denn im deutschen Strafrecht gilt der Grundsatz, dass niemand wegen einer Tat doppelt bestraft werden kann.

Der Bundesgerichtshof hat aber auch klar gemacht: Hier besteht Handlungsbedarf für den Gesetzgeber. Es muss etwas passieren, damit solche weiterhin gefährlichen Täter nicht mehr frei herum laufen können. Aber: Im Augenblick gibt es keine rechtliche Handhabe, um dies zu ändern.

Zur Person

Karl-Dieter Möller ist Leiter der ARD-Fernsehredaktion Recht und Justiz. Für seine Berichterstattung über das Bundesverfassungsgericht wurde der Volljurist unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet.

Im schlimmsten Fall: für immer weggesperrt

tagesschau.de: Eine Sicherungsverwahrung ist ausdrücklich keine Strafe, wozu dient sie?

Möller: Sie soll der Sicherung und der Besserung dienen. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Sicherungsverwahrung keine Strafe ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht das allerdings anders. Er bezeichnete jüngst die nachträglich verhängte Sicherungsverwahrung als Strafe - und zwar als höchste, die man sich vorstellen kann.

Man kann ja auch nicht abstreiten, dass die Leute in der Tat wieder im Gefängnis eingesperrt werden. Und die Gefahr, dass sie dann lebenslänglich in einer Sicherungsverwahrung bleiben, ist in der Tat groß.

tagesschau.de: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Dezember in einem anderen Fall die nachträglich verhängte Sicherungsverwahrung als "Verstoß gegen die Menschenrechte" bewertet - beide Fälle unterscheiden sich aber, oder?

Möller: In diesem anderen Fall war es so, dass das Gesetz zur Sicherungsverwahrung geändert wurde, als der Täter bereits verurteilt war und in Haft saß. Bis dato war die Sicherungsverwahrung nur bis zu maximal zehn Jahre möglich. Das wurde aufgehoben, jetzt kann jemand sicherheitsverwahrt werden bis an sein Lebensende.

Darin hat das Gericht eine Verletzung der Freiheit gesehen, und in einem zweiten Schritt hat er gesagt, es dürfe keine Strafe ohne Gesetz ausgesprochen werden. Und das entsprechende Gesetz gab es eben zum Zeitpunkt der Verurteilung noch nicht.

Trotz Freiheit unter polizeilicher Kontrolle

tagesschau.de: Schauen wir noch einmal auf den Fall in Heinsberg. Es bleibt die Angst der Bürger. Lebt der Mann künftig wirklich auf freiem Fuß?

Möller: Ja, er lebt zumindest in Freiheit. Er hat seine Strafe abgesessen und ist ein freier Mann. Gleichwohl ist er natürlich weiterhin gefährlich. Und es gibt mehrere Möglichkeiten, zu handeln: ihn weiterhin von der Polizei überwachen zu lassen und ihn zu einer Therapie zu bewegen. Der Anwalt des Mannes sagte mir übrigens, sein Mandant sei inzwischen in einer Therapie und lasse sich ärztlich behandeln.

tagesschau.de: Dennoch bleibt ein Nachgeschmack. Wie könnte das Problem "nachträgliche Sicherungsverwahrung" grundsätzlich gelöst werden?

Möller: Es gibt verschiedene Ansätze. Man könnte zum Beispiel in die ehemalige DDR gucken, die zwar keine Sicherungsverwahrung kannte, aber im zivilrechtlichen Bereich ein Unterbringungsgesetz hatte. Denkbar wäre, dass auch wir ein Gesetz bekommen, dass die zivilrechtliche Unterbringung nach einer abgebüßten Strafe regelt.

Wir haben dies ja schon zum Beispiel im Bereich der Psychiatrie. Wir können Menschen, die psychisch krank sind, in bestimmten Fällen in eine Klinik einweisen. Also in diese Richtung könnte es möglicher Weise gehen. Da ist der Gesetzgeber gefragt. Dann hätte man auch das, was der europäische Gerichtshof für Menschenrechte moniert hat, vom Tisch: nämlich die Sicherungsverwahrung als Strafe.

Die Fragen stellte Simone von Stosch für tagesschau.de