Ökonom Fratzscher "Wir gefährden den Wohlstand der Zukunft"
Die Politik der Schwarzen Null sei ökonomisch unklug und unfair gegenüber künftigen Generationen, sagt DIW-Ökonom Fratzscher. Im tagesschau.de-Interview fordert er mehr Investitionen und eine Änderung der Schuldenbremse.
tagesschau.de: Ein ausgeglichener Haushalt klingt doch erstmal sinnvoll. Warum ist die Schwarze Null ihrer Meinung nach dennoch ökonomisch unklug?
Marcel Fratzscher: Die guten Jahre in Deutschland sind vorbei: Wir rechnen in diesem Jahr mit einem schwachen Wachstum von nur 0,5 Prozent. Deutschland ist damit eines der Schlusslichter in Europa. Und wir sollten uns bewusst sein, dass die Risiken für die deutsche Wirtschaft, einen Abschwung zu erleben, in den kommenden ein, zwei Jahren enorm hoch sind.
In einer solchen Lage wäre es klug für eine Regierung, vorbeugend zu agieren und mit einem lang angelegten Investitionsprogramm die Unsicherheit zu reduzieren und den Menschen und Unternehmen wieder mehr Halt zu geben.
tagesschau.de: Sollte die Bundesregierung also neue Schulden aufnehmen, um einer Rezession vorzubeugen?
Fratzscher: Deutschland hat einen riesigen Investitionsbedarf, etwa in den Bereichen Bildung, Verkehrsinfrastruktur oder digitaler Netzausbau. Deshalb brauchen wir ein lang angelegtes, kluges Investitions- und Wachstumsprogramm, das natürlich auch jetzt akut die Wirtschaft stabilisiert.
Unser Vorschlag ist daher, dass über die nächsten fünfzehn Jahre jeweils 30 Milliarden Euro zusätzlich investiert werden. Das würde eine langfristige Planungssicherheit bieten.
"Politik zulasten unserer Nachfahren"
tagesschau.de: Politiker preisen die Schwarze Null immer als besonders generationengerecht. Sehen Sie das auch so?
Fratzscher: Nein, denn dazu gehört, dass man der künftigen Generation nicht nur niedrige Schulden hinterlässt, sondern auch ein leistungsfähiges Land und eine leistungsfähige Infrastruktur und öffentliche Vermögen. Und das tut der Staat nicht.
Wir investieren seit Jahren zu wenig - der deutsche Staat lebt von seiner Substanz. Und dieser Verschleiß der vorhandenen Substanz, etwa im Bereich Infrastruktur, geht zulasten unserer Nachfahren. Deshalb ist die Schwarze Null eben keine verantwortliche Politik künftigen Generationen gegenüber.
tagesschau.de: Verspielen wir mit der Schwarzen Null auch künftiges Wachstum?
Fratzscher: Ja, damit gefährden wir den Wohlstand in der Zukunft. Denn weniger Investitionen und schlechte Infrastruktur heute heißt, dass Unternehmen morgen weniger produktiv und weniger wettbewerbsfähig in den globalen Märkten sind. Und das heißt, letztlich werden viele gute Jobs nicht entstehen oder wegfallen. Und das geht dann letztlich zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger, gerade der künftigen Generationen.
Marcel Fratzscher leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. Der Ökonom berät die Vereinten Nationen und ist Mitglied im Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums.
"Steuererleichterungen sind nicht nachhaltig"
tagesschau.de: Die Große Koalition hat gerade erst umfangreiche Entlastungen beschlossen, etwa die Grundrente oder das Ende des Soli. Das stützt doch die Konjunktur, weil die Bürger mehr Geld zur Verfügung haben.
Fratzscher: Stärkerer öffentlicher Konsum, höhere Sozialausgaben und auch Steuersenkungen sind aber nicht nachhaltig, denn das ist ja eine permanente individuelle Entscheidung, ob jemand das Geld ausgibt oder nicht.
Es kann gut sein, dass es in fünf oder zehn Jahren volkswirtschaftlich schlechter läuft und die Menschen ihr Geld eher zusammen halten - und dann muss der Staat irgendwo Leistungen kürzen. Er könnte dann die Investitionen noch weiter zurückfahren oder im Bildungsbereich kürzen. Deshalb ist die aktuelle Politik eher ein Wohlfühlpaket - aber keine langfristig angelegte, kluge Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Niedrige Zinsen
tagesschau.de: Ein großer Teil der Investitionen in Infrastruktur liegt aber in der Zuständigkeit der Kommunen.
Fratzscher: Das stimmt. Bund, Länder und Kommunen müssen zusammen gesehen werden. Ein kluger Bund-Länderfinanzausgleich und auch eine kommunaler Ausgleich ist absolut essenziell, um die Kommunen finanziell besser auszustatten. Aber auch da ist der Bund in der Pflicht. Denn die Kommunen haben ja keinen großen finanziellen Spielraum, denn sie haben ja kaum Einnahmequellen.
tagesschau.de: Deutschland kann derzeit so günstig Geld aufnehmen wie selten zuvor. Warum macht der Finanzminister das nicht einfach?
Fratzscher: Die niedrigen Zinsen sind ein weiteres Argument gegen die Schwarze Null, denn derzeit gibt es viel Spielraum, und der sollte genutzt werden. Aber selbst bei Zinsen von drei Prozent wären Investitionen in Bildung, in Infrastruktur, digitale Infrastruktur absolut essenziell - weil sich das in der Zukunft auszahlt.
"Schuldenbremse modifizieren"
tagesschau.de: Warum hält die Politik - vor allem die Union - dennoch so eisern an der Schwarzen Null fest?
Fratzscher: Das hat vor allem politische Gründe. Im Augenblick ist die Große Koalition nicht besonders stark und ist sich auch nicht einig, was genau getan werden soll. Ich glaube aber auch, viele haben noch nicht wirklich erkannt, wie kritisch die wirtschaftliche Lage ist.
Die Politik lebt nach dem Prinzip Hoffnung. Doch es wäre fahrlässig, erst zu handeln, wenn die Rezession eingetreten ist - denn dann ist es zu spät.
tagesschau.de: Sollte die Schuldenbremse im Grundgesetz abgeschafft werden?
Fratzscher: Nein, aber sie sollte modifiziert werden. Wir sollten nach wie vor auf eine solide Schuldenpolitik setzen: Die Staatsschulden sollten 60 Prozent des BIP nicht übersteigen. Aber die Schuldenbremse sollte ergänzt werden durch eine Investitionsregel, die besagt: Der Staat darf das öffentliche Vermögen nicht vernachlässigen und darf nicht von der Substanz leben.
Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de