Nahles' Rentenkonzept "Der Lebensstandard wird sinken"
Rettet die "doppelte Haltelinie" die Rente? Nicht praktikabel, urteilt Wirtschaftsexperte Joachim Ragnitz. Die Mittelschicht sei nicht von Altersarmut bedroht, erklärt er im Gespräch mit tagesschau.de. Trotzdem müssen künftige Rentner Abstriche machen.
tagesschau.de: Arbeitsministerin Nahles hat ihr Rentenkonzept vorgestellt. Das Rentenniveau soll bis 2045 nicht unter 46 Prozent sinken, der Rentenbeitrag nicht über 25 Prozent steigen. Was halten Sie von diesen Vorschlägen?
Joachim Ragnitz: Ich halte das für Wunschdenken. Man kann solche Grenzen natürlich definieren, aber im nächsten Schritt muss die Frage beantwortet werden, wie sie finanziert werden sollen. Da macht Frau Nahles ja auch Vorschläge, die halte ich jedoch nicht für praktikabel. Zudem scheint es hier auch keinen Konsens innerhalb der Koalition zu geben.
Nehmen wir die Haltelinie beim Beitragssatz: Höher als 25 Prozent soll er bis 2045 nicht steigen. Wenn dann jedoch zusätzliche Mittel notwendig sein sollten, um das Rentenniveau stabil zu halten, dann soll das Geld aus der Steuerkasse kommen. Das ist Augenwischerei. Dem Beitragszahler kann es doch egal sein, ob er höhere Beiträge oder höhere Steuern zahlt. Fakt ist: Die erwerbstätige Bevölkerung wird durch diese Pläne finanziell zusätzlich belastet. Auch was die künftige Untergrenze des Rentenniveaus angeht, bin ich skeptisch. Ich denke nicht, dass sie ohne zusätzliche Maßnahmen wie eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit einzuhalten sein wird.
Joachim Ragnitz ist stellvertretender Leiter des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in Dresden. Dort beschäftigt er sich unter anderem mit den wirtschaftlichen Auswirkungen des demografischen Wandels.
tagesschau.de: Ein höheres Renteneintrittsalter hat die SPD ausgeschlossen. Trotzdem soll das Rentenniveau weniger stark sinken als bisher. Wenn Sie 46 Prozent für zu hoch halten: Welche Höhe wäre aus Ihrer Sicht denn angemessen?
Ragnitz: Das ist eine politische Frage, auf die es keine wissenschaftliche Antwort geben kann. Man sollte allerdings beachten, dass ein sinkendes Rentenniveau nicht bedeutet, dass die Renten insgesamt niedriger ausfallen. Sie steigen künftig nur weniger stark als die Löhne.
tagesschau.de: Wie wird sich der Lebensstandard eines Durchschnittsverdieners verändern, der in 20 Jahren in Rente geht und sich allein auf die gesetzliche Altersvorsorge verlässt?
Ragnitz: Wenn wir einmal annehmen, dass das Einkommensniveau in Deutschland weiter ansteigt, dann werden die Renten auch weiter ansteigen, allerdings langsamer als die Löhne. Das heißt: Der künftige Rentner ohne private oder betriebliche Altersvorsorge wird weniger stark an der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft teilhaben. Oder kurz: Sein Lebensstandard wird sinken. Aber es bedeutet nicht, dass diese Menschen automatisch in die Altersarmut abrutschen.
tagesschau.de: Trotzdem ist die Angst vor Armut im Alter längst in der Mittelschicht angekommen. Einer Umfrage zufolge glauben fast 60 Prozent der Deutschen, nicht ausreichend für den Ruhestand abgesichert zu sein. Muss die Politik da nicht handeln?
Ragnitz: Es gibt keine Hinweise darauf, dass Altersarmut zum Massenphänomen wird. Heute sind etwa drei Prozent der Über-65-Jährigen auf Grundsicherung angewiesen. Diese Zahl wird sich auf rund 5,5 Prozent in 2030 erhöhen, aber längst nicht die breite Mehrheit der Bevölkerung betreffen. Die Mittelschicht ist nicht von Altersarmut bedroht. Gefährdet sind vor allem Geringverdiener und Rentner, die lange arbeitslos waren. Für diese Menschen soll und muss die Politik etwas tun. Die jetzt vorgelegten Vorschläge von Frau Nahles erreichen aber gerade diese Gruppe nicht.
tagesschau.de: Sie empfehlen den Menschen vor allem private Vorsorge, um im Alter gut abgesichert zu sein. Aber zeigt die dürftige Riester-Bilanz nicht, dass dieses Modell gescheitert ist?
Ragnitz: Wenn das Rentenniveau sinkt, ist private Vorsorge notwendig, um die entstehende Lücke zu schließen. Aber es stimmt: Die Riester-Rente hat mit Problemen zu kämpfen. Die Produkte sind intransparent und kompliziert, die derzeitige Niedrigzinsphase tut ihr übriges. Aber das spricht nicht gegen die private Altersvorsorge an sich. Sie muss künftig jedoch besser organisiert werden. Ich halte etwa den Vorschlag von Frau Nahles, standardisierte Rentenprodukte einzuführen, für sehr vernünftig. Und man darf natürlich nicht die Menschen aus dem Blick verlieren, die finanziell nicht in der Lage sind, fürs Alter vorzusorgen. Dort ist Altersarmut eine ernstzunehmende Gefahr. Da muss man eine Lösung finden.
tagesschau.de: Ein sinkendes Rentenniveau, eine schlecht funktionierende privat Altersvorsorge: Viele Menschen stellen sich auf eine kleine Rente ein, die sie zu allem Überfluss noch versteuern werden müssen. Wie soll man so einen entspannten Lebensabend verbringen?
Ragnitz: Fest steht: Es wird nicht mehr so einfach sein wie früher, den Lebensstandard zu halten. Die Ursachen dafür liegen in der Vergangenheit. Die demografische Entwicklung sorgt nun einmal dafür, dass künftig immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentner finanzieren müssen. Das Kind liegt also im Brunnen, jetzt muss man versuchen gegenzuhalten. Die Frage ist, wer die höhere Rechnung bezahlt. Sollen es die künftigen Beitragszahler über höhere Steuern und Abgaben finanzieren? Oder sollen die künftigen Rentner selbst einen größeren Beitrag für ihren Lebensabend leisten - über längere Lebensarbeitszeit und mehr private Vorsorge? Ich halte die zweite Option für die bessere.
tagesschau.de: Der aktuellen Rentnergeneration geht es – im Durchschnitt - so gut wie keiner zuvor. Ist das angesichts der Probleme, vor der die nächste Generation steht, noch zu rechtfertigen?
Ragnitz: Die heutigen Rentner haben in ihrem Erwerbsleben Ansprüche angesammelt, die man ihnen natürlich nicht wegnehmen kann. Außerdem stehen die Probleme ja noch nicht heute an, sondern erst ab 2030. Daher würde ich die heutigen Rentner bei der Lösung dieser Probleme außen vor lassen.