
Nordrhein-Westfalen Strukturwandel im Rheinischen Revier: Alarmruf der Kommunen
Die Revier-Kommunen wenden sich mit einer Fundamentalkritik an das NRW-Wirtschaftsministerium. Der Strukturwandel sei in Gefahr.
Aus dem Rheinischen Braunkohle-Revier soll eine Zukunftsregion werden - das ist der Anspruch der schwarz-grünen NRW-Landesregierung. Doch aus Sicht der Anrainer-Kommunen läuft gerade sehr viel in die falsche Richtung. In einem 16-seitigen Brief wendet sich die "Bürgermeisterkonferenz der Tagebau-Anrainer und Kraftwerksstandorte" an das NRW-Wirtschaftsministerium. Das Schreiben liegt dem WDR vor. Es ist ein Alarmruf voller Klagen und Vorwürfen - unterfüttert mit konkreten Beispielen. Unter anderem geht es auch um den Einsatz der milliardenschweren Fördergelder, die den Strukturwandel in der Braunkohle-Region unterstützen sollen.
Stellvertretend für die Anrainer-Kommunen schildern die Bürgermeister von Elsdorf, Bedburg und Jülich, Andreas Heller, Sascha Solbach und Axel Fuchs in dem Schreiben, wo was falsch läuft und wo sie dringenden Handlungsbedarf sehen.
Vorwurf: Willkür und Intransparenz
Die Bürgermeister beklagen zum Beispiel willkürliche Entscheidungen und fehlende Transparenz. So gebe es eine "'Förderung nach Zuruf' in einer Art 'Closed Shop'", zu dem die kommunalen Akteure keinen Zugang hätten. Und sie beklagen "ein sehr willkürliches Fördern von sogenannten 'Eh-Da'-Projekten" einzelner Ministerien der Landesregierung.
Es fehle ein "roter Faden der Förderung". So seien in der Vergangenheit Anträge der Anrainer auf Förderung von Bildungsprojekten abgelehnt worden, während aktuell in Einzelfallentscheidungen zahlreiche Bildungsprojekte gefördert würden. Insbesondere Projekte, die in die Zuständigkeit verschiedener Ministerien fallen, hätten es schwer. Die Rede ist "von einem mühsamen Prozess":
Dort wird dann auf Sachbearbeiter-Ebene in Gutsherrenart die Förderwürdigkeit einzelner Projektbausteine infrage gestellt.
Schreiben der Anrainer-Kommunen an das NRW-Wirtschaftsministerium
Vorwurf: Falsche Förderschwerpunkte

Außenansicht von Schloss Türnich
In konkreten Beispielen listet das Schreiben die nach Ansicht der Anrainer-Kommunen falschen Förderschwerpunkte auf. An mehreren Stellen wird die Förderung von Schloss Türnich in Höhe von 33 Millionen Euro kritisiert, da das Schloss in der Vergangenheit bereits mit Millionenbeträgen gefördert worden sei. Hier und bei der "Modellfabrik Papier" in Düren sei die Förderung "unter erheblicher Strapazierung eines Zusammenhangs mit dem vorgezogenen Kohleausstieg" erfolgt.
Ein weiteres Beispiel: die "energetische Sanierung kommunaler Gebäude" sei zwar nötig, aber keine Aufgabe des Strukturwandels. Auch die "Förderung von Park+Ride-Parkplätzen mit Mitteln des Strukturwandels in Höhe von umgerechnet 50.000,- Euro je einzelnem PKW-Stellplatz" werde zu "keinerlei Akzeptanz des gesamten Strukturwandelprozesses in unserer Region führen", das Gegenteil sei der Fall.
Vorwurf: Betroffene Kommunen seien von Förderungen ausgeschlossen
Wenn eine Kommune öffentliche Fördergelder erhalten will, ist dies mit einem enormen Aufwand verbunden. Allein die bürokratischen Hürden bei der Antragstellung fressen Zeit. Ist ein Förderbescheid erfolgt, geht die Arbeit für die Kommunen weiter, denn nun müssen sie dokumentieren, dass die öffentlichen Gelder auch sachgerecht verwendet wurden. Das ist ein Grund, weshalb Städte und Gemeinden häufig Förderoptionen ungenutzt lassen.
Folgt man der Argumentation der Anrainer-Kommunen, dann ergibt sich im Rheinischen Revier die absurde Situation, dass ausgerechnet die vom Strukturwandel betroffenen Kommunen von Fördertöpfen ausgeschlossen sind. Wegen der Personalnot sei man künftig nicht mehr in der Lage, Förderaufrufen zu folgen oder eigene Projektvorschläge einzureichen, so die eindringliche Warnung.
Die Gemeinde Inden sei "ein mahnendes und wachrüttelndes Beispiel" dafür, dass sich bereits eine Kommune aus der "Strukturwandel-Förderkulisse" verabschiedet habe.
Warnung: Für die Erft-S-Bahn werden keine Mittel reserviert
Der ÖPNV-Ausbau ist zentral für den Strukturwandel und seine erhofften neuen Arbeitsplätze. Auch dieses Thema knöpfen sich die Bürgermeister vor. Von "erheblichen Irritationen" beim Ausbau der Erft-S-Bahn ist in dem Brandbrief der Bürgermeister die Rede. Es gebe "Finanzierungsunsicherheiten", eine "Mittelreservierung" für die Bahn sei offen. Dabei sei es "eine bestehende und intakte Strecke, die lediglich an wenigen Stellen ausgebaut und elektrifiziert werden muss". 2032 soll der Ausbau der Strecke beginnen. Das Fazit der Bürgermeister: "Hier ist wirklich Eile geboten."
Warnung: Bleibt genug Geld für die Tagebau-Seen?

Visualisierung Hafen Jackerath 2070
Auch bei der restlichen Verkehrsinfrastruktur fehlt den Anrainern eine vorausschauende Planung. Zum Beispiel bei der Erschließung der Tagebau-Seen. "Die vorhandenen RWE-Betriebsstraßen reichen für die Erschließung nicht aus." Denn viele Straßen seien von RWE wegen des Fortschreitens der Tagebaue nicht auf Dauer ausgelegt worden.
Die Befüllung der Tagebau-Seen wird Jahrzehnte dauern. Baumaßnahmen dazu seien erst in zehn oder 20 Jahren rechtlich zulässig, geben die Autoren zu bedenken. Hier, wie an anderen Stellen, treibt die Bürgermeister die Sorge um, dass am Ende für die mittelfristigen Projekte kein Geld mehr da sein wird.
SPD: "Das reinste Strukturwandel-Chaos"
Die Beauftragte der SPD-Fraktion für das Rheinische Revier, Lena Teschlade, sagte dem WDR auf Anfrage, der Brief der Anrainer zeige: "In NRW herrscht das reinste Strukturwandel-Chaos. Es gibt bis heute kein gezieltes Management der Förderstrukturen für das Rheinische Revier." Noch immer seien Milliarden-Summen in unfertigen Projekten verplant.
Wirtschaftsministerin Neubaur habe "den gesamten Prozess verschlafen, und jetzt drohen ihr mit Blick auf das Auslaufen der ersten Förderperiode die Mittel auch noch zu verfallen". Das wäre, so Teschlade "eine Katastrophe für das Rheinische Revier und für die schwarz-grüne Landesregierung der Ausweis von kollektiver Tatenlosigkeit". Sie fordert, dass Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) den Strukturwandel "endlich zur Chefsache machen".
NRW-Wirtschaftsministerium verspricht Auswertung der Kritik
Auf Nachfrage teilte ein Sprecher des NRW-Wirtschaftsministeriums dem WDR mit: "Das Wirtschaftsministerium nimmt die Anmerkungen und Hinweise der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Anrainerkommunen sehr ernst. Ihre Perspektiven und Anliegen sind für uns von besonderer Bedeutung." Man werde die im Schreiben geäußerten Punkte "aufgreifen und sorgfältig auswerten". Ziel bleibe, "das Verfahren im Dialog mit allen Kommunen im Rheinischen Revier weiterzuentwickeln – konstruktiv und im offenen Austausch zum Wohle der Menschen im Rheinischen Revier".
Quellen:
- Brief der Anrainer-Kommunen an das NRW-Wirtschaftsministerium
- SPD-Fraktion auf Anfrage
- NRW-Wirtschaftsministerium auf Anfrage
- eigene Recherche
Über dieses Thema berichten wir am Freitag auch im WDR-5-Landesmagazin Westblick ab 17.04 Uhr.