ein Fahrzeug der Bundespolizei steht am deutsch-polnischen Grenzübergang Stadtbrücke

Nordrhein-Westfalen Rechtswidrige Zurückweisungen: Was das bedeutet und wie es weitergeht

Stand: 04.06.2025 10:40 Uhr

Das Berliner Verwaltungsgericht hat per Beschluss entschieden, dass die Zurückweisungen an der deutschen Grenze rechtswidrig sind - die Regierung will aber daran festhalten. Wie kann es jetzt weitergehen?

Von Oliver Scheel

Die Zurückweisung von Asylsuchenden bei Grenzkontrollen auf deutschem Gebiet ist nach einem Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts rechtswidrig. Ohne Durchführung des sogenannten Dublin-Verfahrens dürfen sie nicht abgewiesen werden, entschied das Gericht am Montag. Und nun? Eine herbe Schlappe für die Bundesregierung, die einen strengeren Migationskurs verfolgen will.

Gerichtsbeschluss zu Grenzkontrollen: Was folgt daraus?

Wie reagiert die Union?

Die Regierung gibt sich bisher trotzig, Bundesinnenminister Alexander Dobrindt hält trotz der Niederlage an seinem Migrationskurs fest und will Asylbewerber weiter abweisen. "Es gibt keinen Grund, aufgrund einer Gerichtsentscheidung in einem Einzelfall unsere Praxis zu verändern", sagte der CSU-Politiker. Man strebe eine Entscheidung im Hauptverfahren an.

"Wir können nicht mit letzter Sicherheit sagen, wie Gerichte entscheiden", sagte CDU-Fraktionsvize Günter Krings am Mittwoch im WDR-Interview. Bei "stationäre Grenzkontrollen an einer Straße", brauche man aus seiner Sicht nicht Artikel 72, die sogenannte Notstandsklausel. "Sondern wenn ich an der Grenze jemanden nicht hineinlasse, ist das nach dem gesamten europäischen Recht eigentlich klar, dass er sich dann noch in Österreich, in Polen befindet." Diese Länder seien dann für die Zuständigkeitsprüfung zuständig.

Insofern gibt es hier Konstellationen, wo ich gar keine Bedenken habe.

CDU-Fraktionsvize Günter Krings

Der CSU-Innenpolitiker Thomas Silberhorn sagte am Mittwoch im rbb24 Inforadio: Wenn höchstrichterlich die Auffassung vorherrsche, dass jeder, der sich auf Asyl beruft, (...) ein Recht auf ein Dublin-Verfahren habe, dann sei diese Rechtslage nicht zufriedenstellend.

Das gelte insbesondere dann, wenn die betreffende Person auf dem Landweg nach Deutschland kommt und möglicherweise einen gefälschten Pass bei sich habe, so Silberhorn. "Wir wollen irreguläre Migration bekämpfen, und deswegen müssen wir uns auch vorbehalten, die Dublin-Verordnung ändern zu lassen."

Was bedeutet der Beschluss eigentlich konkret?

Der aktuelle Beschluss des Gerichts jedenfalls bedeutet, dass die ohnehin umstrittene Praxis rechtlich auf tönernen Füßen steht. Der Migrationsforscher Gerald Knaus hält das Konzept der Zurückweisungen gar für komplett gescheitert. "Alle Fälle, die vor Gericht kommen werden, wird die Bundesregierung verlieren bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof. Die Frage ist nur, wie lange sie das noch durchziehen will", sagte Knaus in einem Podcast des "Stern".

Der Migrationsrechtsexperte Daniel Thym hält es hingegen für möglich, dass die Zurückweisungen rechtlich Bestand haben könnten. Die Bundesregierung habe in dem konkreten Fall keine ausreichende Begründung vorgelegt, warum sie sich auf eine Ausnahmeregelung des EU-Rechts stützt, und darum habe sich das Gericht mit diesem Aspekt auch nicht befasst, erklärte der Professor der Universität Konstanz im Deutschlandfunk. "Wenn sie eine solide Begründung vorlegen, könnte ich mir vorstellen, dass der Eilrechtsschutz auch anders ausfällt."

Innenminister Alexander Dobrindt, CSU

Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) hält an Zurückweisung fest

"Die Zurückweisungen gefährden die europäische Zusammenarbeit im Migrationsrecht und unterwandern den individuellen Flüchtlingsschutz", schreibt das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) in einer Aussendung, die dem WDR vorliegt. Der Flüchtlingsrat Brandenburg kritisierte, es sei beschämend, dass die Bundesregierung sich über Rechtsprechungen und bindende europäische Verordnungen hinwegsetze. "Damit werden nicht nur Menschen in unsägliches Leid gestürzt, sondern wird auch willentlich rechtsstaatlicher Boden verlassen."

Wie geht es jetzt weiter?

Das ist eine schwierige Frage. Möglicherweise kommt es nämlich überhaupt nicht zu einem Hauptverfahren, das die Union ja anstrebt. Denn laut Verwaltungsgericht Berlin sind die Beschlüsse "unanfechtbar". Eine Beschwerde in der nächsthöheren Instanz, dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, ist nach dem Gesetz nicht möglich. 

Die Bundesrepublik, so das Gericht, sei nach der Dublin-Verordnung der EU dazu verpflichtet, bei Asylgesuchen, die auf deutschem Staatsgebiet gestellt werden, in jedem Fall das in dieser Verordnung vorgesehene Verfahren zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaats vollständig durchzuführen, heißt es auf der Internetseite des Gerichts.

Das ist das sogenannte Dublin-Verfahren. Die Bundesrepublik könne sich nicht darauf berufen, dass die Dublin-Verordnung angesichts einer Notlage unangewendet bleiben dürfe. Dobrindt beruft sich nämlich in seiner Anweisung von Anfang Mai auf eine in den europäischen Verträgen berücksichtigte nationale Notlage. Diese sogenannte Notlagenklausel erlaubt Ausnahmen, wenn es um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit geht. Dobrindt sagte, es gebe durch irreguläre Migration eine Überforderung bei der Integrationsfähigkeit, in den Kitas, den Schulen bis zum Gesundheitswesen. Die hat das Gericht aber nicht feststellen können.  

Friedrich Merz

Bundeskanzler Friedrich Merz

Kanzler Friedrich Merz (CDU) hält dennoch an der Zurückweisung Asylsuchender fest. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin habe die "Spielräume hier möglicherweise noch einmal etwas eingeengt", sagte Merz auf dem Kommunalkongress des Deutschen Städte- und Gemeindebundes in Berlin. Aber: "Wir wissen, dass wir nach wie vor Zurückweisungen vornehmen können", fügte der CDU-Chef hinzu. Man werde dies "selbstverständlich im Rahmen des bestehenden europäischen Rechts" tun. Das genau sieht das Gericht allerdings anders.

Und deshalb befürwortet Migrationsforscher Thym als Konsequenz aus dem Urteil eine Reform des europäischen Asylrechts. Ohne Reform „droht das, was jetzt ja bei den Zurückweisungen in Deutschland droht, dass die Politik immer wieder neue Maßnahmen versucht, dann gegen eine Wand von Gerichten läuft, die sagt aus guten juristischen Gründen, das geht alles nicht“, erläuterte Thym.

Wie viele Polizisten brauchen wir und können Polizisten den Dienst verweigern?

Schon lange ist bekannt, dass die Polizeigewerkschaften mehr Personal fordern, um die Arbeit an den Grenzen zu absolvieren. Die genannten Zahlen sind unterschiedlich, manche sprechen von 3.000, andere von bis zu 10.000 zusätzlichen Kräften. "Es sind nie genug", sagte Erich Rettinghaus, der NRW-Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG NRW) im Gespräch mit dem WDR. Es gebe ja auch eine sehr lange grüne Grenze. Über die Kosten kann man laut Rettinghaus nur spekulieren.

Schon im Mai hatte der Vorsitzende der Bundespolizei in der GdP, Andreas Roßkopf, den Zeitungen der Funke Mediengruppe gesagt, dass die intensiven Kontrollen nur noch einige Wochen aufrechterhalten werden können. Weit über 1.000 Bereitschaftspolizisten seien im Grenzraum im Einsatz.

Kanzler Merz sagte indes: "Bis die Lage an den Außengrenzen mit Hilfe von neuen europäischen Regeln deutlich verbessert ist, werden wir die Kontrollen an den Binnengrenzen aufrechterhalten müssen." Andreas Rosskopf, Vorsitzender GDP für den Bereich Bundespolizei sagte dazu im WDR-Interview: Die Frage sei, ob die Stärke des Personals dabei so erhalten bleibe. "Wenn das der Fall sein sollte, dann sind wir ganz klar der Meinung, dass in wenigen Wochen Schluss sein damit wird, weil die Überstundenberge, die Dienstbefreiung, die nicht genommen werden können, die Urlaube, die nicht genehmigt werden, die Dienstpläne, die umgestellt worden sind, das kann einfach kein Dauerzustand sein."

Wenn Polizisten wissen, dass sie eigentlich gegen geltendes Recht verstoßen, wenn sie Menschen an der Grenze zurückweisen, können sie dann den Dienst verweigern? Nein, glaubt Rettinghaus, die Kollegen müssten machen, was der Dienstherr vorgibt. Es sei denn, sie begehen Straftaten, was hier nicht der Fall sei.

Allerdings besagt die sogenannte Remonstrationspflicht, dass "Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen unverzüglich bei dem unmittelbaren Vorgesetzten geltend zu machen" seien, wie es auf der Seite des Deutschen Beamtenbundes (DBB) heißt. Es gibt also durchaus die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass eine Tätigkeit nicht im Einklang mit geltendem Recht sein könnte.

Andreas Rosskopf von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) fordert mehr Rechtssicherheit für die Bundespolizei. Darauf habe man bisher vergeblich gewartet.

Wir brauchen eine schriftliche Klarstellung, dass die Kollegen in dieser unsicheren Situation klar auf Weisung handeln und auch nicht persönlich für ihre Handlungen im Nachgang eines Gerichtsverfahrens in dieser Sache belangt werden können.

Andreas Rosskopf, Vorsitzender GDP für den Bereich Bundespolizei

Was war der Anlass für den Gerichtsbeschluss?

Im konkreten Fall, den das Berliner Gericht verhandelte, ging es um zwei Männer und eine Frau aus Somalia, die am 9. Mai mit dem Zug aus Polen nach Deutschland reisten. Die Bundespolizei begründete die Zurückweisung laut Gericht mit der Einreise aus einem sicheren Drittstaat.

Dobrindt hatte am 7. Mai eine Intensivierung der Grenzkontrollen verfügt und angeordnet, auch Asylsuchende an der Grenze zurückzuweisen – allerdings mit Ausnahmen, etwa für Kinder und Schwangere.

Unsere Quellen:

  • Nachrichtenagenturen dpa, epd, KNA und Reuters
  • Gespräch mit Erich Rettinghaus von der Deutschen Polizeigewerkschaft
  • Text auf der Webseite des Berliner Verwaltungsgerichts
  • Webseite dbb.de des Deutschen Beamtenbundes und Tarifunion
  • WDR-Interview mit Andreas Rosskopf, Vorsitzender GDP für den Bereich Bundespolizei
  • WDR Interview mit CDU-Fraktionsvize Günter Krings