
Baden-Württemberg Nach Razzia: Experte im Interview über die Geschäfte der Mafia rund um Stuttgart
Bei Mafia-Razzien im Raum Stuttgart wurde auch ein Polizist festgenommen. Experte Sandro Mattioli erklärt, dass es mehr Mafia-Aktivitäten gebe, als die Menschen wahrhaben wollen.
Bei den Razzien im Kontext der mutmaßlichen ‘Ndrangheta-Mafia-Aktivitäten kam es im Raum Stuttgart, aber auch in anderen Bundesländern und in Italien am Dienstag zu Festnahmen. Auch ein Polizist sitzt nun wegen des Verdachts auf Geheimnisverrat in Untersuchungshaft. Der SWR hat bei Autor und Mafia-Experte Sandro Mattioli nachgefragt, wie es dazu kommen konnte und wie aktiv die Mafia in Baden-Württemberg ist.

Autor Sandro Mattioli kennt sich mit den Mafia-Strukturen im Remstal und um Stuttgart aus.
SWR Aktuell: Herr Mattioli, wie durchdrungen sind unsere Behörden, ist unsere Gesellschaft von der ‘Ndrangheta?
Sandro Mattioli: Die ‘Ndrangheta ist eine extrem reiche Organisation. Es gibt Experten, die schätzen ihren Jahresumsatz auf 220 Milliarden Euro. Und um mit diesem Geld was machen zu können, muss man dieses Geld investieren, muss es in Wirtschaftskreisläufe bringen. Deswegen ist es für die Organisation grundsätzlich sehr wichtig, Kontakt zu den verschiedensten Menschen in der Gesellschaft aufzubauen. Deshalb sind auch Restaurants für die ‘Ndrangheta ein wichtiger Ort - gar nicht so sehr für die direkte Geldwäsche, sondern weil man dort Kontakt bekommt, zum Beispiel zu Vorsitzenden von Sportvereinen.
Generell ist dabei das Interesse eher auf Männer ausgerichtet: auf Bürgermeister, Stadtkämmerer, auf Unternehmer und eben auch auf manchen Polizisten. Denn so wie alle Menschen, die italienisches Essen mögen, gibt es auch Polizisten, die mal gern beim Italiener essen gehen. Und dann bietet sich dort natürlich eine gute Möglichkeit, Kontakte anzubahnen.

SYMBOLBILD: Eine Pizza wird aus einem Pizzaofen in einer Pizzeria geholt.
SWR Aktuell: Wie wird diese Beziehung nach einem ersten Kontakt dann vertieft?
Mattioli: Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das kann zunächst sehr lange einfach ein freundschaftliches Verhältnis bleiben, so wie das auch bei Günther Oettinger (Anm. d. Red. ehemaliger CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg) und dem inzwischen berühmten Mario L. der Fall gewesen sein soll. Dabei geht es anfangs seitens der Mafiosi vielleicht gar nicht direkt um Ruhm und Vorteil.
Es können so aber auch Netzwerke entstehen, nach dem Motto: "Ich tue dir einen Gefallen, du tust mir einen Gefallen." Das muss zunächst gar nichts Großes sein. Vielleicht die Nachfrage, an wen man sich wegen eines Strafzettels wenden kann. So niederschwellige Dinge. Und es kann sich dann aber zu mehr auswachsen, wenn man merkt, da ist jemand bereit, vielleicht gegen Geld, mir irgendwelche Gefälligkeiten zu tun. Das heißt jetzt nicht, dass das in dem Aalener Fall so war. Da ist noch zu wenig bekannt darüber.
Mattioli: Aber grundsätzlich ist die ‘Ndrangheta sehr bemüht, Netzwerke aufzubauen. Das ist ihre Stärke. Und natürlich wäre sie blöd, wenn sie nicht auch probieren würde, in Polizeibehörden hineinzukommen. Denn die italienische Mafia kann in Deutschland nur prosperieren, weil es auch Leute gibt aus dem deutschen Umfeld, die ihr helfen.
Seien es Rechtsanwälte, Berater oder Bankiers, etc. Und vor dem Hintergrund hat sie natürlich auch ein Interesse daran, mit Polizisten und Polizistinnen in Kontakt zu kommen, um entweder kleinere Sachen hinbiegen zu können oder zu erfahren, wenn Ermittlungen drohen oder bereits im Gange sind. Dass sie dann erfahren, wann sie sich abschotten müssen und all solche Dinge. Das muss gar nicht immer ein riesengroßer Geheimnisverrat sein.
Ich will im Übrigen den Schwarzen Peter nicht der Polizei zuschieben. Es gibt dort sehr viele engagierte Leute, was gerade solche Polizeioperationen immer wieder zeigen.
SWR Aktuell: Gibt es Beispiele für diese "kleinen" Informationen?
Mattioli: Ein Klassiker ist: Die Mafiosi wissen, sie stehen unter Beobachtung. Wenn sich das intensiviert, könnten sie vielleicht fragen, ob gerade ein Ermittlungsverfahren gegen sie läuft oder gegen Leute, die sie kennen. Oder es gab Vernehmungen und man will danach dafür sorgen, dass da ein bestimmtes Detail nicht drin ist. Das wäre dann deutlich mehr als ein Geheimnisverrat. In dem vorliegenden Fall finde ich interessant, dass der Beamte verhaftet worden ist. Ich vermute, dass die Staatsanwaltschaft dann etwas mehr in der Hand hat als nur die Aussage, dass jemand bestechlich ist.
Wir müssen zunächst davon ausgehen, dass der Mann unschuldig ist. So ist es im deutschen Rechtssystem völlig zu Recht. Aber die Tatsache, dass er verhaftet und zuvor schon intern versetzt worden war, weist darauf hin, dass da die Beleglage ganz gut ist.
SWR Aktuell: Hat Sie bei dem aktuellen Fall jetzt etwas überrascht?
Mattioli: Mich überrascht beim Thema Mafia-Bekämpfung eher wenig. Und in Baden-Württemberg ist in der Vergangenheit auch nicht immer ganz konsequent durchgegriffen worden. Der bekannteste Fall ist von einem Mann im LKA, der die Mafia jahrelang engagiert bekämpft hat und den man dann aus seinem Amt entfernt hat. In meinem Buch "Germafia" berichte ich über einen ernst zu nehmenden Hinweisgeber, der diesem Beamten schon berichtet hatte, dass Mario L. hinter einer großen Falschgeld-Druckerei stehen soll. Diese Hinweise waren also im LKA Baden-Württemberg gelandet. Schon damals hat man meinen Recherchen zufolge den Hinweisgeber zu einem anderen Kollegen im LKA weitergeschoben und dort ist die Sache dann nicht weiter verfolgt worden. Wir reden hier von einem Zeitraum von etwas mehr als 10 Jahren. Es passiert also immer wieder, dass merkwürdige Dinge passieren bei der Verfolgung von Mafiosi und mutmaßlichen Mafiosi - auch in anderen Bundesländern.
Ich vertraue der Polizei im gesamten aber trotzdem. Solche Dinge muss man aber ansprechen, denn die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu erfahren, wenn es zu Versäumnissen kommt. Insofern freut es mich, dass das LKA aktuell einen Präsidenten hat, der sich öffentlich positioniert und sagt, dass die Mafia stärker bekämpft werden muss. Das halte ich für ein sehr wichtiges Signal. In diesem aktuellen Fall scheint man nun offenbar auch niemanden geschont zu haben, wenn sogar ein Polizist, der im Verdacht steht, mit den Mafiosi kooperiert zu haben, festgenommen wird. Das deutet darauf hin, dass man engagiert vorgeht.
SWR Aktuell: Es sollen ja nun Gastronomen bedrängt worden sein, Waren zu kaufen, die sie gar nicht brauchen…
Mattioli: Ich kenne diese Praxis sehr gut. Das ist seit ungefähr 15 Jahren eine Methode, die die klassische Schutzgelderpressung verdrängt hat. Auch, weil dieses Vorgehen rechtlich gesehen nur eine Nötigung ist. Die wurde nach meinen Recherchen in Frankfurt und Umgebung so ungefähr 2010/2012 praktiziert - just von dieser Gruppe, die jetzt auch im Fokus stand. Es gab damals auch Ermittlungen und ein Gerichtsverfahren. Dieses Gerichtsverfahren hat einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, denn man hat für die Ermittlungen einen Gastwirt, der Opfer dieser Masche geworden ist, abgehört. Dieser Gastwirt hat auch im Gerichtsverfahren als Zeuge ausgesagt und in der Folge brannte sein Restaurant und auch eine Minigolfanlage, die zu diesem Restaurant gehört.
SWR Aktuell: Geht es der Mafia bei dieser Masche nur darum, Geld zu machen?
Mattioli: Es geht bei dieser Masche um zweierlei. Das eine ist, Geld einzunehmen. Der Vorteil dieser Art von Handel, wenn man die Produkte selbst produziert, ist, dass man kontinuierlich Geld einnimmt. Das Problem bei Einnahmen aus dem Drogenhandel ist, dass es schwallweise kommt. Das andere ist der symbolische Wert. Wenn ich diesen Leuten meine Produkte aufzwinge und die kaufen diese Produkte, dann bedeutet das gleichzeitig, dass sie meine Autorität anerkennen.
SWR Aktuell: Bei den Razzien wurden Ortschaften genannt, zum Beispiel Fellbach, Waiblingen, Kernen im Remstal, Weinstadt, Schorndorf, Rudersberg. Für Sie persönlich war das nun keine Überraschung, denn Sie wissen, da ist schon länger etwas am Rumoren?
Mattioli: "Die Mafia gibt es in Deutschland, aber nicht bei uns." Das ist so eine Haltung, die haben sehr viele Menschen, und die ist aber unangebracht. Denn wenn wir Ermittlungen anschauen, dann sieht man, dass selbst kleinste Orte wichtig sein können für die ‘Ndrangheta. Es gibt sogenannte Locali - das sind Ortsvereine, mit mindestens 50 Mitgliedern. Eine solche Gruppierung gab es beispielsweise laut Ermittlungen in Rielasingen-Worblingen (Kreis Konstanz). Das ist ein Ort, der mir bisher noch nie begegnet war, der auch nicht sonderlich groß ist und garantiert hat man auch dort gedacht: "Die Mafia bei uns, das gibt's nicht."
Die zweite Stufe des Denkens ist dann: "Die Mafia gibt es bei uns, aber das ist alles gar nicht so schlimm, wie man denkt." All das spielt der ‘Ndrangheta und anderen Organisationen in die Hände. Denn anstatt diese Gruppen als eine gefährliche Organisation zu benennen, von der man die Finger lassen sollte, gehen die Menschen trotzdem in Restaurants von Leuten, die im Ruch stehen, dazuzugehören.
Das ist eine Haltung, die leider von der großen Stadt bis in den kleinen Ort durchreicht und zur Folge hat, dass die Menschen immer glauben: "Bei uns gibt es keine Mafiosi." Wer etwa im Remstal lebt, muss immer davon ausgehen, dass man es bei manchen Leuten mit der Mafia zu tun hat.
Wer etwa im Remstal lebt, muss immer davon ausgehen, dass man es bei manchen Leuten mit der Mafia zu tun hat. Autor Sandro Mattioli
Mattioli: Das gilt auch für manche Gebiete am Bodensee oder die Region um Karlsruhe. Auch Mannheim ist eine Ecke mit einer sehr hohen Mafiadichte - und auch Heilbronn, wie sich bei meiner Buch-Recherche gezeigt hat. Wir können uns in Baden-Württemberg an keiner Stelle sicher sein, dass wir dort keine Mafia haben. Gerade wenn man in einer relevanten Position ist, etwa im Bürgermeisteramt oder als Unternehmenschefin oder -chef, sollte man immer auch den Gedanken im Hinterkopf haben, dass man es auch mit der Mafia zu tun haben könnte.
Zugleich gibt es natürlich viele Italiener - wie mein Vater einer war - die aus Italien gekommen sind, um hier zu arbeiten, die mit der Mafia überhaupt nichts am Hut haben und sich im Gegenteil sogar von solchen Strukturen distanzieren wollen. Deswegen ist es auch so wichtig, dass viele Ermittlungen geführt werden. Denn wenn gesichertes Wissen darüber da ist, wo sich die Mafia befindet, wer dazu gehört und was die Behörden dagegen machen, dann schützt das auch die guten Italiener.
Sendung am Mi., 2.4.2025 19:30 Uhr, SWR Aktuell Baden-Württemberg, SWR BW