Boris Palmer (parteilos) Oberbürgermeister von Tübingen fordert weniger Inklusion dafür mehr Sonderschulen

Baden-Württemberg Kritik an Äußerungen von Boris Palmer zu Geldsparen bei Inklusion

Stand: 05.12.2024 09:07 Uhr

Tübingens Oberbürgermeister findet die derzeitigen Inklusionsbemühungen an Schulen zu teuer. Er will wieder mehr Sonderschulen, um Geld zu sparen. Dafür erntet er Kritik.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) muss angesichts klammer Kassen Geld sparen. Dabei hat er unter anderem die Inklusion an Schulen im Auge. "Die Inklusion funktioniert inhaltlich sowieso nicht gut," sagte er im Morgenmagazin von ARD und ZDF. "Vielleicht sind die Sonderschulen doch die bessere Lösung", so der Oberbürgermeister. Der Tübinger Landrat Joachim Walter (CDU) und die Präsidentin des Sozialverbands VdK Verena Bentele kritisieren Palmers Forderungen für mehr Sonderschulden und weniger Inklusion.

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Palmer: Mehr Sonderschulen statt Inklusion

Palmer erklärte weiter, dass Sonderschulen sehr viel günstiger seien "als dieses neue System". Er fordert also: Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf sollten weniger in Regelschulen unterrichtet werden. Stattdessen sollten sie wieder in Sonderschulen gehen.

Zudem verschlechterten sich die Schulleistungen, weil die Schulen mit Inklusion und Integration sehr vieler Kinder zur gleichen Zeit überfordert seien, teilte Palmer auf SWR-Anfrage mit. Deswegen sei es auch wichtig, Flüchtlingskinder so lange separat zu beschulen, bis sie "mitschwimmen" könnten.

Inklusion nur in ausgewählten Schulen

Zudem plädiert er dafür, Inklusion nicht mehr als einklagbaren Rechtsanspruch ohne jede Rücksicht auf Kosten und Qualität durchzusetzen, sondern mehr auf die Ergebnisse zu achten. Dafür wäre es laut Palmer richtig, Inklusionsklassen nur in ausgewählten Schulen anzubieten, diese richtig gut auszustatten und außerdem wieder mehr Kinder in Sonderschulen zu nehmen. Damit würden sich für fast alle in Tübingen die Lernbedingungen ändern.

Palmer verweist auf Einschätzungen von Pädagogen, Eltern, Schülern und Schülerinnen mit und ohne Behinderung. In der Praxis würden die meisten diese Auffassung teilen, aber sie werde tabuisiert, weil das "angeblich die Menschenrechte von Behinderten einschränken soll", so Palmer.

Hintergrund ist, dass viele Kommunen bundesweit in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Palmer als Tübingens Oberbürgermeister sucht deswegen nach Einsparmöglichkeiten. Er bemängelt, dass Bund und Länder immer höhere Anforderungen an die Kommunen stellen würden. Bezahlen müssten die Leistungen dann die Kommunen selbst. Das hält Palmer für falsch. Hier müssten Bund und Länder mehr unterstützen.

Kritik an Palmers Aussagen zu Inklusion

Der Tübinger Landrat und Präsident des Landkreistages, Joachim Walter (CDU), schreibt auf SWR-Nachfrage: "Inklusion ist ein Menschenrecht. Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, für ein inklusives Schulsystem einzutreten." Ein Zurück zur Sonderschule könne es allein deshalb nicht geben. Daher brauche man auch nicht über mögliche Einsparpotentiale zu spekulieren, so Walter.

In Baden-Württemberg haben die Eltern die Wahl, ob ihr Kind ein inklusives Bildungsansgebot in Anspruch nimmt oder ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum besucht. Dies ist aus Sicht der Landkreise der richtige Weg. Joachim Walter, Landrat Kreis Tübingen

Landrat Walter sieht es als Verbesserung an, dass Eltern mehr Wahlmöglichkeiten haben, welche Schulart sie für ihr Kind wünschen. Walter kritisiert aber auch wie Palmer, dass das Land die schulische Inklusion nicht ausreichend finanziere. Angesichts eines um sich greifenden Fach- und Arbeitskräftemangels werde man nicht umhinkommen, darüber nachzudenken, wie unter sich ändernden Rahmenbedingungen Inklusion auch in Zukunft nachhaltig gewährleistet werden könne.

VdK: Forderungen des Tübinger OB sind "populistischer Unsinn"

Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, hält Palmers Äußerung für "populistischen Unsinn". Auch das nicht-inklusive Förderschulwesen koste Geld, so Bentele auf SWR-Nachfrage. Bei den meisten Kindern mit Behinderung würde die Inklusion keinen Cent kosten, wenn man bereit wäre, Förderschulen zu schließen und in ein inklusives Schulsystem zu investieren.

Durch jede Förderschule, die nicht mehr gebraucht wird, werden jährlich mindestens 200.000 Euro für die inklusive Bildung frei. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK

Das Festhalten an Sonderschulen koste den Staat auch deshalb Geld, so Bentele weiter, weil ein Großteil der Förderschulabgängerinnen und -abgänger keinen Schulabschluss habe. Dadurch seien sie oft auf Sozialhilfe angewiesen oder in Werkstätten beschäftigt. In einer inklusiven Schule hätten Förderschüler hingegen bessere Chancen auf einen Schulabschluss - und damit auch auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz.

Bentele sieht - anders als Boris Palmer - dringenden politischen Handlungsbedarf darin, Regelschulen für ihre Inklusionsarbeit zu stärken. Dafür sei mehr geschultes Personal nötig. Ihren Angaben nach besuchen derzeit drei von fünf Kindern mit Behinderung eine Förderschule anstelle einer Regelschule.

Sendung am Mi., 4.12.2024 12:30 Uhr, SWR4 BW Studio Tübingen - Regionalnachrichten

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