Eindrücke aus Stuttgart-Zuffenhausen: Abgebrannte Mülleimer, Hund im Kofferraum, Angeklager in Handschellen vor Gericht

Baden-Württemberg Bandenkrieg im Raum Stuttgart: Kein Ende der Schuss-Serie absehbar

Stand: 03.04.2025 19:25 Uhr

Noch nie wurde im Land so lange ermittelt: Seit zwei Jahren jagt das LKA zwei Stuttgarter Banden. Über 120 Jahre Haft wurden verhängt - trotzdem geht die Schuss-Serie weiter. Warum?

An einem kalten, aber sonnigen Montagmittag ist viel los auf den Gehwegen nahe der Burgunderstraße in Stuttgart-Zuffenhausen. Auch die Shishabars und Dönerläden sind gut besucht. Mütter schieben ihre Kinderwägen, Großmütter ihre Rollatoren - eigentlich die typische Vorstadtidylle. Wer nicht weiß, dass hier in den vergangenen drei Jahren immer wieder Banden aufeinander geschossen haben, würde es wahrscheinlich nicht vermuten. Die Rede ist von einer Gruppierung aus Stuttgart, Esslingen und Ludwigsburg sowie einer aus Zuffenhausen und Göppingen, die nicht nur in Zuffenhausen mit brutalen Straftaten für Aufsehen gesorgt haben.  

Chronik: Bandenkrieg in Stuttgart
2020: Ein Mann zielt in Zuffenhausen mit einer Luftdruckpistole auf eine Menschengruppe
Juli 2022: Schüsse auf ein Auto in Zuffenhausen
März 2023: Schüsse auf einen Mann in Zuffenhausen. Er sitzt seitdem im Rollstuhl
Juni 2023: Der Konflikt eskaliert mit dem Wurf einer Handgranate bei einer Trauerfeier in Altbach
 
Die Vorfälle sorgen für mehrere Razzien in Zuffenhausen. Durchsucht werden Gastrobetriebe, Wohnungen - zuletzt aber auch Shishabars. Bei der letzten Razzia im Januar 2024 in den Stammbars der Banden in Vaihingen und Zuffenhausen ist die Bilanz eindeutig: Die Polizei sichert drei Mal Betäubungsmittel, ein Einhand- und ein Cuttermesser, ein Tierabwehrspray und eine gefälschte Schusswaffe.

Auch das als Stammlokal der Bande geltende Restaurant und das Bistro neben dem Kreisverkehr wirken unauffällig. Aber hier wurde schon oft geschossen, zuletzt 2023 auf einen Mann, der jetzt im Rollstuhl sitzt. Eine Razzia hat es hier im Viertel erst im Januar gegeben. Fühlen sich die Passanten rund zwei Jahre nach dem letzten Vorfall wieder sicher?

Waffen, Tatverdächtige und Tatort

In diesem Kreisverkehr, durch den jeden Tag Fahrzeuge fahren, hielten schon Bandenmitglieder ihre Waffen aus dem Fenster.

Angst vor neuer Schuss-Serie

Viele Passanten haben einen Migrationshintergrund, sprechen kein oder nicht fließend Deutsch. Sobald das Wort "Schießerei" fällt, brechen etliche das Gespräch ab - vor allem Männer.

Die Angst ist, dass dein Kind getroffen wird, wenn einfach einer vorbeifährt und rumschießt. Passantin aus Zuffenhausen

Die meisten Befragten fühlen sich in der Gegend nicht wohl. Viele haben weniger Angst um sich als um ihre Kinder: "Die Angst ist, dass dein Kind getroffen wird, wenn einfach einer vorbeifährt und rumschießt", erzählt eine Frau. 

Bandenkrieg in Stuttgart: 120 Jahre Haft, kein Ende in Sicht I Zur Sache! Baden-Württemberg

"Wir stellen eine zunehmende Verwahrlosung und Kriminalisierung des Viertels fest", schildert eine Passantin. Das sei besorgniserregend. Ein Mann auf einem Roller erzählt, er umfahre die Burgunderstraße auf dem Weg zur Arbeit. Ein anderer Mann macht seinen Kofferraum auf und zeigt seinen laut bellenden Schäferhund, ohne den er ungern in der Gegend unterwegs ist. Er sei seine Lebensversicherung.  

Eindrücke aus Stuttgart-Zuffenhausen: Abgebrannte Mülleimer, Hund im Kofferraum, Angeklager in Handschellen vor Gericht

Der Schäferhund trainiere mit Polizeihunden, erzählt der Besitzer. Durch ihn fühlt er sich geschützt.

Ein Metzger kommt aus seinem Geschäft heraus, zeigt auf eine ausgebrannte Papiermülltonne in seinem Hinterhof. Am Vortag habe sie jemand angezündet, erzählt er. Nebenan habe es ein anderes Mal auch schon gebrannt. Immer wieder fahren Polizeiwagen vorbei. 

Eindrücke aus Stuttgart-Zuffenhausen: Abgebrannte Mülleimer, Hund im Kofferraum, Angeklager in Handschellen vor Gericht

Reste einer Mülltonne im Hinterhof mitten im Wohnviertel in Zuffenhausen. Erst am Vortag wurde sie angezündet.

Es ist ruhiger geworden, aber nicht still

Trotz vieler Straftaten sieht der Leiter des Reviers Zuffenhausen, Mustafa Binici, den Stadtteil nicht als kriminellen Schwerpunkt. "Die Kriminalitätsentwicklung der vergangenen Jahre ist in Zuffenhausen auf einem gleichbleibenden Niveau", betont er. Dem widerspricht eine weitere Passantin vor Ort: "In den letzten Jahren ist es schlimmer geworden. Aber seit dem letzten Vorfall ist es glaube ich ruhiger geworden, weil die Polizei präsenter war." 

Im Januar: Schüsse in Möhringen

Auch in Möhringen kam es in den vergangenen Wochen zu einem entsprechenden Vorfall. Ende Januar schoss ein 25-jähriger Tatverdächtiger in einem geschlossenen Geschäft auf einen 27-Jährigen. Nur einen Tag später kann die Polizei den mutmaßlichen Täter festnehmen. Der Mann sitzt seitdem in U-Haft. Laut Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt (LKA) haben beide Männer "Bezüge zu den gewalttätigen rivalisierenden Gruppierungen im Großraum Stuttgart".  

Auch wenn die Gruppierungen geschwächt sind und die Ausbreitung gestoppt wurde - sie seien noch immer da, sagt Andreas Stenger, Präsident des LKA. Seit einem Jahr kämpfen Polizei, Justiz und Kommunen gegen die beiden Banden. Die Bilanz: 93 Festnahmen, über 300 Durchsuchungen, 36 Schuss- und über 200 andere Waffen. Vor Gericht seien die Angeklagten bisher zu Haftstrafen von mehr als 120 Jahren verurteilt worden.  

Eindrücke aus Stuttgart-Zuffenhausen: Abgebrannte Mülleimer, Hund im Kofferraum, Angeklager in Handschellen vor Gericht

LKA-Präsident Andreas Stenger will sich nicht auf den Ermittlungserfolgen ausruhen, da der Kampf gegen die Banden noch nicht gewonnen ist.

Einer der längsten Polizeieinsätze in Baden-Württemberg

"Wir sind jetzt seit über zweieinhalb Jahren mit rund 140 Beamtinnen und Beamten im Einsatz, die sich in den verschiedenen Einsatzabschnitten dieser Struktur um dieses Phänomen kümmern - und das hauptamtlich", erklärt Stenger. Eine derart lange Einsatzdauer habe es in Baden-Württemberg noch nie gegeben. Der hohe Zeit- und Personalaufwand verursacht erhebliche Kosten - und da das Problem weiterhin besteht, werden diese vorerst auch nicht sinken. "Wir sind da weiter sehr, sehr wachsam", betont Stenger. Kriminellen Nachwuchs könne man aber laut LKA nicht verhindern.  

Toxische Männlichkeit als Motiv?

Die Täterschaft sei männlich, 18 bis 28 Jahre alt, multiethnisch und aus verschiedenen sozialen Milieus, erklärt Stenger. "Viele bestreiten natürlich als Kleinkriminelle bis hin zu Drogenhandel im größeren Stil oder als Geldabholer beim Telefonanrufbetrug ihren Lebensunterhalt", sagt er.  

Wir sind jetzt seit über zweieinhalb Jahren mit rund 140 Beamtinnen und Beamten im Einsatz. Und das hauptamtlich. Andreas Stenger, LKA-Präsident Baden-Württemberg

Warum gelingt es der Polizei trotz immensem Kostenaufwand nicht, das Bandenproblem in den Griff zu kriegen? Ein Grund sei laut Stenger einerseits eine toxische Männlichkeit. Aber auch ein problematisches Ehrgefühl, das schon bei Banalitäten zu Eskalationen führe.

Hinzu käme, dass in Deutschland geborene junge Männer mit Migrationshintergrund oft das Gefühl haben keine Anerkennung zu bekommen. Oft, weil sie nicht gut in der Schule sind und keine Jobs bekommen. In der Gruppe würden sie sich dann Anerkennung und Respekt holen.  

Machtlos gegen Kriminelle? Wenn Integration scheitert

Sind die Banden ein einmaliges Phänomen?

Baden-Württemberg ist eigentlich ein sicheres Bundesland. Laut dem Sicherheitsbericht 2024 des Innenministeriums spielen sich zwar 44 Prozent der Straftaten im öffentlichen Raum ab. Das Land sei weiterhin sicher. Die Aufklärungsquote liege mit über 60 Prozent sogar über dem Bundesschnitt. Wie die aktuellen Kriminalitätsstatistiken von Bund und Land zeigen, ist die Gewaltkriminalität insgesamt leicht gestiegen. In Baden-Württemberg mit rund zwei Prozent sogar etwas stärker als in ganz Deutschland. Die Statistiken bestätigen die Beobachtungen des LKA-Präsidenten Stenger: Kinder und Jugendliche werden immer häufiger straffällig. Vor allem die Zahl der Messerangriffe in dieser Altersgruppe ist in Baden-Württemberg rasant gestiegen. 

Letzte Chance: Prävention?

Weil die Bandenkriminalität trotz hohem Ermittlungsaufwand immer noch besteht, setzt die Polizei nun auf Prävention. Die Strategie des LKA: Gefährdete Kinder und Jugendliche werden zuhause besucht. Ihnen werden Angebote wie Vereine, Jugendhilfe und Jobcenter vermittelt, um das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Identität zu stärken.

Social-Media-Beitrag auf YouTube von SWR Aktuell: "Wo können junge Leute abhängen ohne Geld? | Stuttgart | SWR Aktuell 360 Grad"

Wenn Prävention nichts bringt, braucht es ernsthafte Konsequenzen. Auch für die Banden, die im Großraum Stuttgart aktiv waren, gab es diese schon: "Wer mit Schusswaffen im öffentlichen Raum unterwegs ist und schießt, ist nicht geeignet, ein Fahrzeug zu führen, Konzessionär von einer Shishabar oder einem anderen Gastrobereich zu sein und er kann auf gar keinen Fall (…) einen Waffenschein haben", sagt LKA-Präsident Stenger. Die Maßnahmen versuchen den schmerzlichsten Punkt der Täter zu treffen. Bisher ohne langfristigen Erfolg. Solange sie nicht die gewünschte Wirkung erzielen, werden die Zuffenhausener Passanten wohl weiter besorgt die Straßen entlanglaufen.

Sendung am Do., 3.4.2025 20:15 Uhr, Zur Sache Baden-Württemberg, SWR BW

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