Vor dem Gericht in dem über den "Tiergartenmord" verhandelt wird.
Hintergrund

Prozess zum "Tiergartenmord" Der ungewöhnliche Zeuge G.

Stand: 07.10.2020 18:16 Uhr

Beim "Tiergartenmord" geht es um mehr als tödliche Schüsse - der russische Staat soll dahinter stehen. Wichtige Erkenntnisse dazu stützen sich auf Recherchen der Organisation Bellingcat. 

Von Florian Flade, WDR, und Georg Mascolo, NDR/WDR

Vadim Krasikov soll ein Mörder sein. Seit Mittwoch steht der 55-jährige Russe vor dem Berliner Kammergericht. Vor Gericht besteht er auf dem Namen Vadim Sokolov, der nach Erkenntnissen der Ermittler nur eine Tarnidentität ist.

Es ist ein Prozess unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Krasikov soll am 23. August 2019 den Georgier Zelimkhan Khanghoshvili im Kleinen Tiergarten in Berlin-Moabit erschossen haben - ein Mord im Auftrag eines russischen Geheimdienstes, davon ist die Bundesanwaltschaft überzeugt. 

Krasikov, der kurz nach dem Attentat festgenommen wurde, soll von russischen Diensten nach Deutschland geschickt, ausgestattet mit einer falschen Identität, um den ehemaligen Kaukasus-Kämpfer Khangoshvili zu ermorden. Das Opfer galt in Russland als Terrorist und Staatsfeind. Vieles spricht dafür, dass Krasikov die Tat begangen hat - es gibt Zeugen, Fingerabdrücke und DNA-Spuren. Aber ist der Mord vom russischen Staat orchestriert worden?

Bellingcat-Recherchen in Anklageschrift

Die Bundesanwaltschaft hat die Belege für diese These in einer 67 Seiten langen Anklageschrift aufgelistet. Es ist ein ungewöhnliches Dokument, und zwar nicht nur, weil darin staatliche Stellen in Russland höchst offiziell des Staatsterrorismus in der Bundesrepublik bezichtigt werden. Die Anklage stützt sich in weiten Teilen nicht auf die Ermittlungsergebnisse der Polizei und die Erkenntnisse der deutschen Geheimdienste - sondern vor allem auf die Recherchen der Onlineplattform Bellingcat.

Akte mit dem Namen des Angeklagten Vadim K.

Die Anschuldigungen gegen den Angeklagten werden auch mit Bellingcat-Recherchen untermauert.

An zahlreichen Stellen verweisen die Ankläger auf die Erkenntnisse, die Bellingcat über den mutmaßlichen Mörder Vadim Krasikov und seine möglichen Geheimdienst-Verbindungen zusammengetragen hatte. In mehr als 70 der 243 Fußnoten der Anklage wird auf die Recherchen der privaten Enthüller verwiesen. Und das, obwohl an der Aufklärung des Falls "Tiergarten" zahlreiche deutsche Sicherheitsbehörden - der Bundesnachrichtendienst (BND), das Bundeskriminalamt (BKA) und der Verfassungsschutz - beteiligt waren.

Privates Netzwerk 2014 gegründet

Der britische Blogger Eliot Higgins gründete das Netzwerk Bellingcat im Jahr 2014. Zunächst hatte es seinen Sitz in Leicester, im vergangenen Jahr dann zog die Organisation nach Den Haag. Bellingcat verfügt über rund ein Dutzend angestellte und rund 60 freie Mitarbeiter und hat sich darauf spezialisiert, durch "Open Source Intelligence" (OSINT), also frei verfügbare Quellen - wie etwa Satellitenbilder, Youtube-Videos oder Fotodatenbanken - Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und andere Verbrechen zu untersuchen. 

Anfangs ging es bei den Recherchen vor allem um den Einsatz von Chemiewaffen im syrischen Bürgerkrieg, später dann um russische Aktivitäten in der Ost-Ukraine, den Abschuss des Passagierflugzeuges MH17 oder die Identifizierung von russischen Geheimdienstlern, die für die Vergiftung des Ex-Spions Sergej Skripal und seiner Tochter im britischen Salisbury verantwortlich sein sollen.

Finanziert wird Bellingcat nach eigenen Angaben durch Crowdfunding, durch Gelder von Stiftungen wie der niederländischen Lotterie-Stiftung und der Open Society Foundation. Außerdem bieten Bellingcat-Mitarbeiter Workshops an und informieren dabei über ihre Recherche-Methoden - auch Strafverfolgungsbehörden wurden bereits geschult.

Prozessauftakt nach Mord im kleinen Tiergarten

Griet von Petersdorff, RBB, tagesthemen, tagesthemen, 07.10.2020 22:15 Uhr

Identität der Angeklagten offenbar aufgedeckt

Beim Mord im Kleinen Tiergarten hatte Bellingcat immer wieder wertvolle Arbeit geleistet. Bereits früh hatten die Rechercheure auf die gefälschte Identität des mutmaßlichen Attentäters hingewiesen. Gemeinsam mit dem "Spiegel" hatte die Rechercheplattform enthüllt, dass es sich bei "Vadim Sokolov" vermutlich um Vadim Krasikov handelt, der einst wegen Mordes in Russland gesucht wurde, bei dem dann allerdings eine Fahndung klammheimlich gelöscht wurde - und die Person plötzlich unter einer anderen Identität auftauchte.

Bellingcat deckte auf, dass es offenbar enge Verbindungen von Krasikov zum russischen Geheimdienst FSB und dessen Spezialeinheit "Vympel" gab. Wie ein Puzzle setzten die Rechercheure ein Bild zusammen: Ein Krimineller soll vom russischen Dienst für politische Auftragsmorde rekrutiert worden sein.

Treffen mit dem "Zeugen G."

Bellingcat habe sich entschieden, so stand es jüngst im "Spiegel", "einen Teil seiner eigenen Recherchen mit den deutschen Ermittlern zu teilen". Für die Staatsanwälte der Bundesanwaltschaft war es ein Glücksfall, dass ein Mitarbeiter der Plattform bereitwillig Auskunft gab. Der Mann, der zu seinem Schutz nur "Zeuge G." genannt wird, wurde zu einer wichtigen Säule der Anklage. Immer wieder haben die Ermittler der Mordkommission des Berliner Landeskriminalamtes (LKA) mit ihm gesprochen - vier Mal im Dezember 2019 in Berlin, und über den Zeitraum von fünf Tagen im Januar 2020 in der deutschen Botschaft in Wien.

Der Zeuge G. gab an, eine Woche nach dem Mord im Kleinen Tiergarten mit seinen Recherchen zu den Hintergründen der Tat begonnen zu haben. Dabei habe er sich nicht nur öffentlicher Quellen bedient, sondern er verfüge durch Informanten in Russland auch über Zugänge zu staatlichen Datenbanken. Seit dem Jahr 2014, so erzählte es der Bellingcat-Mitarbeiter den Ermittlern, habe er zudem mehr als 1000 Datenbanken mit Melderegistern aus Russland käuflich erworben.

G. erhebt Vorwürfe gegen deutsche Behörden

Es wäre "erschreckend", so sagte der Zeuge auf Anfrage, wenn die deutschen Behörden nicht mehr über die Hintergründe des "Tiergarten-Mordes" wüssten als Bellingcat. Dass seine Recherchen einen großen Teil der Anklage ausmachen, bezeichnet der Zeuge als "peinlich" - und als Risiko für das Verfahren. Er werde nicht als Zeuge vor Gericht in Berlin erscheinen, erklärte er auf Nachfrage. Der Generalbundesanwalt teilte mit, eine solche Absage sei nicht bekannt. 

Man sei von den Enthüllungen von Bellingcat "getrieben" worden, so sagen Ermittler - nicht ohne Anerkennung für die Rechercheure und deren technische Fähigkeiten. Zwar habe man auch selbst Etliches herausgefunden, beispielsweise die gelöschte Fahndung nach Vadim Krasikov. Und man habe die Informationen, die Bellingcat zur Verfügung gestellt habe, durch eigene Ermittlungsarbeit bestätigen können - oft sei es sogar besser, wenn man dann seine eigenen Quellen nicht vor Gericht offenlegen müsse. Aber es in diesem Fall seien eben auch Defizite sichtbar geworden.

Möglichkeiten des BND begrenzt

So dürfte der BND zwar auch Beamte in anderen Staaten bestechen und auf diese Weise sensible Informationen beschaffen - die gezahlten Schmiergeldsummen seien jedoch oft nicht so hoch, wie sie private Ermittler zahlen könnten. Hinzu komme, so heißt es in Sicherheitskreisen, dass der BND seine Fähigkeiten bei der Suche und bei der Beschaffung von Material im Netz zu lange vernachlässigt habe. 

Und noch etwas erweise sich als großes Manko: Der BND stellte Anfang der 2000er-Jahre seine Gegenspionage ein. Gemeint ist damit das Anwerben von Quellen im russischen Geheimdienst, um mehr über das Innenleben, Aufträge und Aktionen der Gegenseite zu erfahren.

Damals, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, habe ein anderes Klima geherrscht, erinnern sich erfahrene Sicherheitsbeamte, man habe Russland als Partner im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus gesehen und gebraucht. Erst vor zwei Jahren richtete der BND wieder ein neues Referat zur Aufklärung der russischen Dienste ein.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten am 07. Oktober 2020 tagesschau24 um 15:10 Uhr und NDR Info im "Echo des Tages" ab 18:30 Uhr.