Digitale Verwaltung Keine schöne Bescherung
Ummeldung, BAföG, Arbeitslosengeld: Bis zum Jahresende sollten die meisten Behördengänge digital möglich gemacht werden. Geklappt hat das bislang nur in wenigen Bereichen.
Kurz vor Weihnachten verkündete Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA), die frohe Botschaft: Als erste deutsche Großbehörde könne die BA die Vorgaben des Onlinezugangsgesetzes erfüllen - mit rund 70 Dienstleistungen, die elektronisch verfügbar seien.
Das ist grundsätzlich positiv, leider aber nicht repräsentativ für die Behördendigitalisierung in Deutschland - und auch ein bisschen irreführend. Denn es ist keineswegs so, dass nun überall im Land Menschen ihre arbeitsbehördlichen Angelegenheiten im Internet regeln können. Etwa ein Viertel der Jobcenter sind nicht Teil der Bundesagentur, sondern in kommunaler Trägerschaft. Und davon ist gerade einmal die Hälfte schon so aufgestellt, dass Menschen digital zum Beispiel Arbeitslosengeld II beantragen können.
Beim kommunalen Jobcenter in Wiesbaden funktioniert der Online-Antrag, im Erzgebirgskreis schüttelt man mit dem Kopf - hier kämpft man derzeit wie vielerorts mit der Umstellung auf das neue Bürgergeld. Das höchste der Gefühle: Ein PDF-Formular, das man runterladen, ausfüllen, ausdrucken, unterschreiben, einscannen und per E-Mail an die Behörde schicken kann.
35 Projekte priorisiert
Eigentlich müssten laut Onlinezugangsgesetz (OZG) bis zum Jahresende die meisten Verwaltungsdienstleistungen in Deutschland digital zur Verfügung stehen. Die Realität sieht aber anders aus. Schon vor einiger Zeit haben Bund und Länder die Frist trotz gesetzlicher Vorgabe aufgegeben und beschlossen, wenigstens einige Leistungen pünktlich hinzukriegen.
Im Mai wurden 35 sogenannte "Einer-für-alle"-Projekte priorisiert, also Onlinedienste für Verwaltungsleistungen, die von einem Bundesland entwickelt und betrieben werden und von anderen genutzt werden können. Dazu gehören etwa Ummeldung, Elterngeld, Baugenehmigung oder Führerschein. Als "OZG-Booster" bezeichnete der IT-Planungsrat - das gemeinsame Steuerungsgremium von Bund und Ländern - das Ganze, wohl in der Hoffnung, damit Schwung in die Sache zu bringen.
Jede Menge Papier
Dass aber auch dieses Ziel gerissen wird, wurde im Laufe der vergangenen Monate immer klarer. Anke Domscheit-Berg, Digitalpolitikerin der Linken-Fraktion, hat zum Jahresende beim verantwortlichen Bundesinnenministerium nochmal nachgefragt. Das Ergebnis ist erneut ernüchternd. Auch, weil die Bundesregierung anscheinend selbst nicht so genau weiß, was bei der Booster-Umsetzung Sache ist - und auf die Zuständigkeit der Länder verweist.
"Mir fehlt dafür jedes Verständnis", kommentiert Domscheit-Berg. "So kann man ein gemeinsames Großvorhaben nicht steuern. Auf diese Weise kommen wir mit der Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland nicht voran."
Lediglich drei der Booster-Leistungen seien, Stand Anfang November, flächendeckend digital verfügbar: die Corona-Überbrückungshilfen, die Online-Anzeige und das BAföG. Wobei gerade erst bekannt wurde, dass das BAföG zwar digital beantragt werden kann, aber die zuständigen Ämter die umfangreichen Anträge bislang analog bearbeiten. Das heißt: jede Menge Papier und lange Wartezeiten.
Viele Digitalprojekte sind nicht nutzbar
Trübe sieht es auch beim Rest des OZG-Boosters aus: Zwar gibt es mit dem Elterngeld noch eine weitere wichtige Leistung, die man inzwischen zumindest in den meisten Bundesländern online beantragen kann. Aber viele der 35 priorisierten Digitalprojekte sind offenbar weiterhin nicht flächendeckend nutzbar - oder auch noch überhaupt nicht. Und selbst bei denen, bei denen es geht, ist keineswegs gesagt, dass damit auch eine echte zeitliche und praktische Verbesserung verbunden ist, wie das Beispiel BAföG zeigt.
Die Gründe, warum es immer noch nicht klappt, sind vielfältig. Im Fall der digitalen Kfz-An- und Abmeldung hakt es beispielsweise an der Gesetzesgrundlage. Ausgerechnet das Bundesministerium für Digitales und Verkehr hat noch nicht geliefert. Es muss nämlich noch eine entsprechende Verordnung geändert werden.
Auf Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios erklärt das Ministerium, dass es sich um ein "sehr umfangreiches Verordnungsvorhaben" handle. "Mit den Abstimmungen zwischen Ressorts, Ländern und Verbänden wurde im Juni 2022 begonnen." Zudem werde die Regelung an EU-Recht angepasst. "Es ist geplant, dass die Verordnung 2023 in Kraft tritt." Gemeint ist damit allerdings nicht Januar, sondern die zweite Jahreshälfte.
Unklare Finanzierung, fehlende Standards
Ein weiteres Problem für die Umsetzung einiger der Digitalisierungsprojekte ist eine unklare Finanzierung. Zuletzt hatte es Gerangel bei den Haushaltsverhandlungen gegeben. Digitalpolitikerin Domscheit-Berg kritisiert aber auch, dass "immer noch viel zu komplizierte Vertragsabstimmungen, intransparente Betriebskosten und unklare Datenschutzregeln die Nachnutzung bereits digitalisierter Booster-Leistungen behindern." Besonders eklatant sei zudem weiterhin das Fehlen von Standards und Schnittstellen.
Das sieht auch Malte Spitz so, Mitglied im Nationalen Normenkontrollrat und dort zuständig für das Thema Verwaltungsdigitalisierung. Der Normenkontrollrat blickt in seinem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht düster auf die Entwicklungen beim Onlinezugangsgesetz. Deutschland habe ein Umsetzungsproblem.
Schwierig ist demnach auch die föderale Struktur: "Komplizierte Koordinierungsstrukturen, fehlende Standardisierung und mangelnde Verbindlichkeit" behinderten den Fortschritt. Spitz sieht trotz vieler Akteure den Bund in der Pflicht: "Das OZG gibt der Bundesebene viel Steuerungskompetenz, die der Bund aber kaum nutzt."
Eigentlich kann die Bundesregierung laut Gesetz "IT-Anwendungen, Basisdienste und die elektronische Realisierung von Standards, Schnittstellen und Sicherheitsvorgaben" rechtsverbindlich vorgeben. In der Praxis aber, so Spitz, einigen sich Bund und Länder oftmals auf mittelmäßige Kompromisse. Für ihn ist dieser "kooperative Ansatz" als alleiniger Weg gescheitert: "Es ist unverständlich, dass der Bund da nicht auch an zentralen Stellen klare Entscheidungen trifft und die Verwaltungsdigitalisierung damit voranbringt."
Nicht zu Ende gedacht
Als hochproblematisch sehen Spitz und viele andere Fachleute außerdem, dass die sogenannte Registermodernisierung hinterherhinkt. Hinter dem sperrigen Wort verbirgt sich die Idee, dass Daten und Nachweise, die der Staat bereits hat, nicht bei jedem Amt wieder neu eingegeben oder vorgelegt werden müssen - beispielsweise die Meldebescheinigung oder die Geburtsurkunde.
Auch das zeigt, dass das Onlinezugangsgesetz in seiner Konzeption nicht zu Ende gedacht ist. Zwar ist vorgeschrieben, dass die Antragsstellung für Bürger und Bürgerinnen digital werden soll - wie der Antrag auf Behördenseite dann weiterverarbeitet wird, ist aber nicht definiert. Das heißt, die Prozesse sind oft nur an der Oberfläche digitalisiert, im Amt selbst jedoch nicht - das BAföG-Desaster beweist das besonders anschaulich.
Ändern wird sich das wohl nicht so schnell. Denn auch das Update des OZG, das überfällig ist, scheint den Fokus nicht darauf zu richten. Das zumindest legt ein erster Entwurf nahe, den netzpolitik.org veröffentlicht hat.
Kurzum: Der Ausblick aufs nächste Jahr fällt nur bedingt hoffnungsfroh aus. Für Digitalpolitikerin Domscheit-Berg ist besonders ärgerlich, dass es immer noch nicht flächendeckend möglich ist, sich online umzumelden, weil - vereinfacht gesagt - geeignete Nutzerkonten fehlen. Obwohl schon die nächste Deadline am Horizont winkt: Laut EU-Verordnung soll es bis Dezember 2023 EU-weit möglich sein, seinen Wohnsitz digital anzumelden - also auch in Deutschland.