Anschlagsserie in Berlin Worum geht es im Neuköllner Neonazi-Prozess?
23 ausgebrannte Autos, eingeworfene Fensterscheiben und Morddrohungen: Eine Gruppe Neonazis attackierte in Berlin-Neukölln Bürger, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Wie bewertet das Gericht die Taten?
Seit Wochen bietet sich den Prozessbeobachtern im Saal B 129 das gleiche Bild: Die beiden angeklagten Rechtsextremisten Tilo B. und Sebastian T. verfolgen das Geschehen weitgehend regungslos. Ab und an ein kurzes Geflüster mit ihren Verteidigern, ansonsten wirken die beiden Angeklagten eher gelangweilt, wenn etwa Opfer der Anschläge als Zeugen von ihren Ängsten berichten. Die Aussagen der ermittelnden Polizisten verfolgen die beiden dagegen zumeist schmunzelnd, wenn ihre Anwälte die Ermittler mit bohrenden Fragen dazu bringen, Lücken in der Beweisführung preiszugeben.
In der vergangenen Woche wurde vor Gericht ein Polizei-Video präsentiert, auf dem mutmaßlich einer der Angeklagten dabei zu sehen sein soll, wie er gemeinsam mit einem anderen Mann eine Drohung an einen Hauseingang sprüht. Ein Ermittler will den angeklagten und mehrfach vorbestraften Neonazi Sebastian T. auf dem grisselligen schwarz-weiß Video mit dürftiger Bildqualität "zweifelsfrei identifiziert" haben. Im Verlauf seiner Aussage muss er jedoch einräumen, dass er und seine Kollegen den anderen Rechtsextremisten zunächst mit einer anderen Person verwechselt hatten. "Wie können Sie sich dann sicher sein, meinen Mandanten hier erkannt zu haben", fragt prompt der Verteidiger von Sebastian T. Die schlechte Bildqualität des Videos beantwortet die Frage fast von selbst.
Anschlagsserie über Jahre
Der sogenannte "Neukölln-Komplex" sorgte im Süden Berlins jahrelang für Angst und Schrecken: 23 ausgebrannte Autos, eingeworfene Fensterscheiben, Morddrohungen an Häuserwänden. Eine kleine, aber militante Gruppe von jungen Neonazis brachte Bürger, die sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren, um den Schlaf.
Nach einer Reihe von schweren Ermittlungspannen der Sicherheitsbehörden, die immer wieder für Schlagzeilen sorgten, schaffte es die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, zwei mutmaßliche Täter im August dieses Jahres vor Gericht zu bringen. Doch die Anklage ist möglicherweise nicht fundiert genug. Sie besteht überwiegend aus Indizien. Das könnte nun dafür sorgen, dass zumindest einer der beiden Hauptangeklagten den Gerichtssaal als freier Mann verlassen wird.
Ein Indiz ist, dass die Ermittler kurz nach der angeklagten Brandstiftung auf das Auto des Linken-Politikers Ferat Kocak in der Nacht zum 1. Februar 2018 Google-Maps-Screenshots auf dem beschlagnahmten Rechner von Tilo P. fanden. Diese belegen, dass sich P. das Grundstück der Familie Kocak und die die örtlichen Gegebenheiten im Netz genau angesehen hatte. Wenige Tage später brannte das Auto des damaligen Bezirkspolitikers. Zudem fanden die Beamten eine Sturmhaube auf P's Küchentisch. Das alles sind aber keine Beweise, so formulierten es die Verteidiger immer wieder geschickt vor Gericht.
Die Angeklagten sollen den Linken-Politiker Kocak regelrecht ausspioniert haben.
Eine Serie von Ermittlungspannen
Die Angeklagten hatten Kocak zuvor über ein Jahr lang regelrecht ausspioniert und ihn so lange verfolgt, bis sie wussten, wo er wohnt und was für ein Auto er fährt. Der Verfassungsschutz und mitunter auch das Berliner Landeskriminalamt (LKA) hörten damals mit. Mitschnitte abgehörter Telefonate, die rbb24-Recherche vorliegen, belegen dies.
Doch die Ermittler warnten das spätere Opfer nicht vor den Rechtsextremisten. Auch die beiden Neonazis ließen die Ermittler gewähren, eine notwendige Gefährderansprache, wie sie in solchen Fällen üblich ist, blieb aus. Das Unheil nahm seinen Lauf. Parallel zum Prozess läuft im Berliner Abgeordnetenhaus derzeit ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zu den Neuköllner Vorgängen. Opfer weiterer Anschläge berichteten dort über weitere polizeiliche Pannen.
So beklagte jüngst die Sozialarbeiterin Christiane Schott, auf deren Haus junge Rechtsextremisten zehn Anschläge mit zerbrochenen Scheiben und einem gesprengten Briefkasten verübt hatten, dass die Ermittler im gegenüberliegenden Nachbarhaus zwar eine Überwachungskamera angebrachten hätten, diese aber genau zum Zeitpunkt eines Angriffs nicht lief, weil die Batterien leer waren. Die Familie Schott hat ihr Haus inzwischen verkauft und ist aus Neukölln weggezogen.
Ermittler im Zwielicht
Mehrmals wurde in den vergangenen Jahren der Vorwurf erhoben, Polizisten hätten den Rechtsextremisten ihr Treiben womöglich durch die Weitergabe von brisanten Informationen erleichtert. Sechs Wochen nach dem Brandanschlag auf das Auto des Linken-Politikers Ferat Kocak wollen Verfassungsschützer bei einer Observation beobachtet haben, wie sich ein Kollege vom Berliner LKA mit dem inzwischen angeklagten Neonazi Sebastian T. und drei weiteren polizeibekannten Neonazis in einer Neuköllner Fußballkneipe traf.
Der Beamte W. ist den Verfassungsschützern bekannt, da er für das LKA in einer Abteilung tätig ist, die ebenfalls für Observationsmaßnahmen zuständig ist. Nachdem die Verfassungsschützer ihre Beobachtungen mitgeteilt hatten, wurde gegen diesen Beamten wurde zunächst polizeiintern ermittelt, später prüfte auch die Staatsanwaltschaft den Fall. Das Verfahren gegen ihn wurde in der Folge jedoch eingestellt.
Heute sprechen die Sicherheitsbehörden von einem Irrtum. Die Verfassungsschützer hätten T. mit einer anderen Person, einem Freund des Beamten W., verwechselt. Unstrittig ist aber: Sowohl T. als auch drei weitere Neonazis waren zum besagten Zeitpunkt in der Kneipe, ebenso der LKA-Beamte W. Abgeordnete im Untersuchungsausschuss hat die Darstellung der Behörden bis heute nicht überzeugt, sie fordern weiterhin Aufklärung in diesem Fall.
Großer Aufwand, kaum verwertbare Ergebnisse?
Nach mehr als vier Monaten Prozessdauer könnte heute also mit P. der erste der beiden Neonazis freigesprochen werden - aus Mangel an Beweisen. Wie es mit seinem Kumpel Sebastian T. weiter geht, ist offen. Werden auch hier die von der Staatsanwaltschaft zusammen getragenen Indizien nicht ausreichen? Im Fall zweier Auto-Brandstiftungen könnte die Beweisführung gegen T. ebenfalls schwierig werden.
Doch gegen ihn wird in den kommenden Wochen auch noch wegen Morddrohungen verhandelt. Auf Häuserwänden soll er politischen Gegnern mit dem Tode gedroht haben - mit dem vielsagenden Schriftzug "9mm für…". Zudem wirft die Generalstaatsanwaltschaft T. Sozialbetrug vor. Unter anderem soll er sich Corona-Soforthilfemaßnahmen in betrügerischer Absicht erschlichen haben.