Interview zum Höhenflug "Die Grünen bieten ein positives Lebensgefühl"
Beim Parteitag in Freiburg dürfte es viele zufriedene Gesichter geben, denn die Grünen stehen in Umfragen glänzend da. Der Publizist Robert Misik meint im Interview mit tagesschau.de, die Grünen profitierten besonders stark von der Schwäche der Regierung. Die Partei biete zudem ein positives Lebensgefühl.
tagesschau.de: Der Höhenflug der Grünen hält Umfragen zufolge an. Wo sehen Sie die Gründe?
Robert Misik: Zum einen ist da die ziemlich jämmerliche Performance der Regierung. Das ist ein banaler, aber nicht unwesentlicher Grund. Der zweite geht tiefer: Es gibt einen Politikverdruss - auch in der bürgerlichen Mitte - gegenüber den etablierten Großparteien, den machtpolitischen Spielen, dem Taktieren. Eine Verärgerung darüber, dass Probleme nicht wirklich benannt werden, weil dies vielleicht einem Ministerpräsidenten nicht passen könnte. Es gibt eine Aversion gegen den Alltag der Politik. Das ist ein anderer Politikverdruss als der der Unterschicht, die dann vielleicht Populisten nachrennt.
tagesschau.de: Was machen die Grünen anders als die Großparteien?
Misik: Sie machen keine Klientelpolitik. Sie wirken wie eine rationale politische Kraft, die sagt, wenn sie etwas schlecht findet - und sich nicht verweigert, wenn sie meint, es gebe eine gute Lösung. Dieser Zugang zur Politik spricht viele Bürger an. Vor 15 Jahren hatte man noch gesagt, die Grünen sind ideologische Träumer, sie galten als eine Partei, die am linken Rand des etablierten politischen Spektrums war. Jetzt ist sie in die Mitte gerückt, so dass sie als die vernünftige politische Kraft zwischen den beiden großen Blöcken wahrgenommen wird. Damit sind die Grünen wählbar für frustrierte Anhänger der SPD sowie der Union.
tagesschau.de: Nicht wenige meinen, die Grünen seien damit schlicht beliebig geworden.
Misik: Eine Beliebigkeit würde bedeuten, dass man politische Positionen aufgibt, dass man möglichst schwammig formuliert, um nicht anzuecken. Das zeichnet die Grünen nicht aus, sie vertreten ihre politischen Werte mit Leidenschaft. Andere Parteien sind auch von Werten geleitet. Die Konservativen halten diese besonders hoch - und verhalten sich gleichzeitig diesen gegenüber recht flexibel. Auch bei den Sozialdemokraten wurden in der Ausländer- oder Menschenrechtspolitik schon Positionen über Bord geworfen, wenn sie nicht ankommen. Das tun die Grünen nicht.
tagesschau.de: Das wirkte unter Rot-Grün mit Schröder und Fischer an der Spitze aber noch etwas anders, oder?
Misik: Da hat man den eigenen Leuten viel zugemutet: Ein autokratischer Regierungsstil - Fischer war auch ein Basta-Politiker - und dazu der Kosovo-Krieg. Da sind eine Zeit lang kaum junge Leute in die Partei gekommen, sie ist geschrumpft. Erst in den vergangenen anderthalb Jahren gewinnen die Grünen wieder dazu.
tagesschau.de: Nun wächst die Partei also wieder - und gewinnt bei Umfragen in verschiedenen Milieus an Zustimmung. Wie bekommt man Altlinke, progressive Großstädter und konservative Bürger auf dem Land unter einen Hut?
Misik: Bestimmte Bruchlinien in der Partei sind noch unter der Wahrnehmungsschwelle. Es gibt genügend Leute bei den Grünen, die halb neoliberal sind, die sehr viel Wert auf Leistungsfähigkeit und Individualismus legen. Andere Wähler sind traditionelle Alt-68er. Das ist teilweise witzig, wenn man sich die sehr bürgerlichen Grünen in Berlin anschaut - und in der gleichen Stadt gibt es einen altlinken Helden wie Christian Ströbele. Das geht nur, weil es den Leuten noch nicht richtig auffällt.
tagesschau.de: Das Personal überdeckt also die Gegensätze?
Misik: Die Grünen sind von den Parteien im Bundestag personell am stärksten aufgestellt. Zwei angesehene, hochprofessionelle und präsente Politiker, die schon bewiesen haben, dass sie regieren können: Jürgen Trittin und Renate Künast. Dazu kommt Claudia Roth - die Seele der Partei. Und Cem Özdemir, ein modernistischer Migrant, ist das Gesicht der multikulturellen Gesellschaft. Für alle Spektren ist jemand da - und die Parteispitze arbeitet gut zusammen, ohne sich zu streiten.
tagesschau.de: Gibt es noch ein anderes Erfolgsrezept als nur das Personal?
Misik: Die Grünen bieten ein optimistisches Lebensgefühl. Sie sagen: Wir haben eine ökologische, eine ökonomische Krise - und diese können wir mit einem Konzept lösen: dem "Green New Deal", der neue und grüne Jobs schafft - und somit beiden Krisen bekämpft. Dieses Konzept hat den grünen Negativismus früherer Zeiten vertrieben, der da hieß: Wir müssen verzichten, um die Welt zu retten. Heute ist dies durch einen Positivismus ersetzt. Nein, wir müssen nicht verzichten - und retten die Welt trotzdem, so die Idee. Wir bauen viel bessere Produkte - und schaffen dadurch auch noch Arbeitsplätze. Die Idee einer Win-Win-Situation, wir können konsumieren und alles wird besser.
tagesschau.de: Klingt toll. Ist es mehr als eine schöne Utopie?
Misik: So ganz kann das nicht stimmen, denn wegen der begrenzten Ressourcen wird es auch Verzicht geben müssen. Der "Green New Deal" ist eine Idee, die niemandem weh tut. Andere Konzepte setzen auf Umverteilung - da gibt es immer Gewinner und Verlierer. Das "Green-New-Deal"-Konzept tut hingegen so, als gäbe es nur Gewinner. Aus Marketing-Sicht ein ganz wunderbares Konzept.
tagesschau.de: Und es kommt offenbar an. Laut Umfragen könnten die Grünen künftig bei Landtagswahlen stärkste politische Kraft werden oder zumindest die SPD hinter sich lassen. Eine Zeitenwende für die Partei?
Misik: Das sind Umfragen. Aber wenn die Grünen bei einer Landtagswahl tatsächlich die SPD überholen, und es eine grün-rote Koalition gibt - dann beginnt eine neue Zeitrechnung. Die Grünen haben in ihrer DNA eingeschrieben: Wir sind die kleinere Partei, wir sind das Korrektiv. Wenn man aber auf allen Politikfeldern die Linie vorgeben muss, wird das nicht so leicht. Da wird es noch Wachstumskrisen geben. Die Partei hätte zudem ein Problem mit den Personalressourcen. Alle Parteien haben mittlerweile Probleme, die Ämter mit qualifiziertem Personal zu besetzen. Das hat damit zu tun, dass ein Großteil der Bevölkerung sich nicht in Parteien engagiert und keine politischen Ämter annehmen will. Die Bürger sind zwar verdrossen, dass die Parteien so sind, wie sie sind - zum Teil sind sie aber auch selber schuld. Denn wenn sich nur wenige engagieren, ist das Reservoir der qualifizierten Leute natürlich endlich.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de