Hintergrund

Relativer Begriff Was ist Armut?

Stand: 26.08.2007 21:36 Uhr

Arm sein in Deutschland hat nichts mit existenzieller Not zu tun. Niemand muss auf Nahrung, Kleidung oder eine Wohnung verzichten. Dennoch gelten auch in Deutschland viele Menschen als arm. Wie wird Armut im reichen Deutschland gemessen? Ein Überblick.

Von Andrea Krüger und Frank Thadeusz, tagesschau.de

Trotz Wirtschaftskrise und Ebbe in den öffentlichen Kassen: Deutschland gehört nach wie vor zu den reichsten Ländern der Welt. Wer von Armut in Deutschland spricht, muss deshalb eines hinzufügen: Mit der existenziellen Armut, unter der Menschen in Entwicklungsländern leiden, hat sie nichts zu tun. Niemand muss in Deutschland Hunger leiden, auf Kleidung oder eine Wohnung verzichten. Niemand wird vom Krankenhaus abgewiesen, wenn er ärztliche Hilfe benötigt. Und niemand muss für den Schulbesuch bezahlen. Das soziale Netz mag inzwischen Löcher haben - aber es existiert.

Komplexer Begriff: Armut

Dennoch schlagen Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und Wissenschaftler seit Jahren Alarm und warnen vor der zunehmenden Armut in Deutschland. Hinter ihren Warnungen steckt ein anderes Verständnis von Armut. Es geht um relative Armut - einen komplexen Begriff, der trotz zahlreicher Forschungsansätze noch immer einigermaßen schwammig ist.

Die EU hat die relative Armut 1984 folgendermaßen beschrieben: "Als verarmt sind jene Einzelpersonen, Familien und Personengruppen anzusehen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar sind."

Die konkrete Festlegung der relativen Armut basiert darüber hinaus auf einer willkürlichen Festlegung eines bestimmten Geldbetrages. Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes etwa sind Menschen arm, denen weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung steht. Demnach gilt beispielsweise ein Ehepaar mit zwei Kindern unter 14 Jahren und einem Budget unter 1560 Euro Netto im Monat als arm. Die Bundesregierung setzt hingegen in ihrem Armutsbericht die Schwelle für Armut niedriger an: Nach ihrer Definition ist ein Mensch dann arm, wenn sein Einkommen unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt. Die so genannte Armutsrisikogrenze läge demnach für eine Einzelperson bei 938 Euro.

Definition von materieller Armut

Die Zahlen zur Berechnung von Armut sehen allerdings bei den einzelnen Institutionen wie Unicef oder Paritätischer Wohlfahrtsverband unterschiedlich aus. Denn tatsächlich stellen sich bei der Berechnung von Armut viele Fragen. Wie wird die Zahl der Kinder hochgerechnet auf das nötige Gesamteinkommen der Familie? Wie gewichtet man den geografischen Faktor (Ost oder West)? Wo liegt der Grundbedarf? Allerdings weisen Experten darauf hin, dass trotz unterschiedlicher Ansätze und Berechnungsgrundlagen die qualitative Aussage der verschiedenen Verbände gleich lautet: Die Armut in Deutschland wächst.

Armut als Verwahrlosung der Lebensführung

In der Armutsforschung ist die materielle Armut allerdings nur ein Indikator. Mindestens genauso wichtig ist für Soziologen der mögliche Rückzug von Menschen aus den wesentlichen Institutionen der Zivilgesellschaft - etwa aus Schulen oder Vereinen.

Eine so genannte "Verwahrlosung der Lebensführung" findet sich denn auch in den Statistiken und Armutsberichten der Wohlfahrtsverbände so gut wie gar nicht wieder. Bei der Frage, ob Kinder in Armut leben, stellen sich demnach ganz grundsätzliche Fragen: Ist für die täglichen Mahlzeiten gesorgt und kümmert sich jemand um deren Wäsche? Haben die Kinder einen regelmäßigen Ansprechpartner - und ganz fundametal: Wer achtet darauf, dass sie morgens pünktlich aufstehen?

Bei Erwachsenen werden finanzielle und materielle Krisenphasen gar als kaum dramatisch eingeschätzt, so lange die Perspektive besteht, dass der Betroffene auf absehbare Zeit eine moderne, gesellschaftliche Normalbiografie ausfüllen kann.