Hintergrund

Murat Kurnaz Ohne Beweise viereinhalb Jahre Haft in Guantanamo

Stand: 24.10.2006 08:57 Uhr

Keine Anklage, keine Beweise, keine Verurteilung und dennoch viereinhalb Jahre als Terrorist inhaftiert. Vom Februar 2002 bis August 2006 saß der junge Türke Kurnaz aus Bremen in Guantanamo ein. Dabei hätte er wahrscheinlich schon Jahre früher in Freiheit sein können, wenn die Bundesregierung es gewollt hätte.

Keine Anklage, keine Beweise, keine Verurteilung und dennoch viereinhalb Jahre als Terrorist inhaftiert. Vom Februar 2002 bis August 2006 saß der junge Türke Kurnaz aus Bremen in Guantanamo ein. Dabei hätte er wahrscheinlich schon Jahre früher in Freiheit sein können, wenn die Bundesregierung es gewollt hätte.

Von Alexander Richter, tagesschau.de

Seit Anfang 2002 wurde Murat Kurnaz ohne Anklage oder Verurteilung in dem US-Stützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba festgehalten. Die USA beschuldigten den jungen Mann, der im März 1982 in Bremen geboren wurde und dort aufwuchs, aber türkischer Staatsbürger ist, ein so genannter feindlicher Kämpfer zu sein. Beweise für diese Behauptung legten die US-Behörden nie offen. Im Gegenteil: Verhöre in Guantanmo ergaben keinerlei Hinweise auf eine militante oder terroristische Gesinnung des Häftlings "JJJFA". Auch eine Delegation des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), die Kurnaz am 23. und 24. September 2002 in dem US-Gefangenenlager vernahm, kommt zu dem Schluss, dass der Inhaftierte durchschnittlich intelligent sei, naive Ansichten habe und "lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort war, jedoch mit Terrorismus geschweige denn mit Al Kaida nichts zu tun hat". Dennoch dauerte es mehr als viereinhalb Jahre, bis Kurnaz in seine Heimat zurückkehren durfte. Offenbar hatten weder die rot-grüne Bundesregierung noch die Türkei großes Interesse, den Unschuldigen aus der US-Haft zu holen.

Moschee-Besuche und religiöse Kontakte

Die tragische Geschichte des Bremer Schiffbaulehrlings beginnt im Herbst 2001. Seit einigen Monaten interessiert sich der damals 19-Jährige intensiv für den Islam. Er lässt sich einen Bart wachsen und besucht regelmäßig die Abu-Bakr-Moschee in Bremen Mitte. Dort bekommt er Kontakt zur Organisation "Jama at al-Tabligi". Die Bundesregierung bescheinigt der Vereinigung zwar "nicht dem terroristischen Spektrum" zuzugehören, hegt aber den Verdacht, dass sie bei "Radikalisierungsprozessen eine wesentliche Rolle" spiele. Amnesty international beschreibt "Jama at al-Tabligi" als eine "große friedlich gesonnene religiöse Gruppierung".

Ausreise nach Pakistan und angebliche "Dschihad"-Pläne

Am 3. Oktober 2001 – vier Tage vor den ersten US-Bombardements in Afghanistan – fliegt Kurnaz vom Flughafen Frankfurt nach Karatschi in Pakistan. Angeblich will er dort den Islam studieren und Koranschulen besuchen. Einigen Aussagen zufolge wollte der Teenager von Pakistan nach Afghanistan reisen, um sich am "Dschihad" gegen die USA zu beteiligen. Allerdings kann die Staatsanwaltschaft Bremen, die von Oktober 2001 an für ein Jahr gegen Kurnaz wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelte, diese Behauptungen nicht bestätigen.

Überstellung nach Guantanamo im Februar 2002

Im Oktober und November reist Kurnaz kreuz und quer durch Pakistan. US-Angaben zufolge wird er am 1. Dezember von pakistanischen Behörden festgenommen, an US-Kräfte übergeben und am 2. Februar 2002 nach Guantanamo gebracht. Die Wochen zwischen Festnahme und Überführung nach Kuba verbringt der junge Bremer im US-Gefangenelager von Kandahar in Afghanistan. Dort und später auch in Guantanamo soll er misshandelt worden sein.

Deutsche Stellen wussten frühzeitig Bescheid

Die deutschen Behörden bekommen Anfang 2002 Kenntnis von der Inhaftierung. Der BND meldet am 9. Januar ans Kanzleramt, dass ein in Deutschland aufgewachsener türkischer Staatsbürger namens Murat Kurnaz in Kandahar festgehalten werde. Am 18. Januar – rund zwei Wochen vor der Überstellung nach Guantanamo – informiert das Bundeskriminalamt seine US-Kollegen vom FBI erstmals über die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Kurnaz.

Auch die Bundeswehr wußte nach eigenen Angaben von einem "deutschsprachigen Häftling", der in Kandahar festgehalten wird. Soldaten der Bundeswehrspezialeinheit KSK sahen Kurnaz sogar im Januar 2002 dort. Eine entsprechende Meldung darüber ging jedoch im Verteidigungsministerium verloren, teilte das Ressort im Oktober 2006 ein.

Anwalt bittet Regierung um Unterstützung

Kurnaz' Mutter, die auch in Bremen wohnt, erfährt ebenfalls Anfang 2002, dass ihr Sohn von den USA festgehalten wird. Sie schreibt an das Auswärtige Amt in Berlin und schaltet einen Anwalt ein. Der Jurist wendet sich in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach an die Bundesregierung und bittet um Unterstützung in dem Fall. Doch lediglich das Außenministerium scheint sich für die Freilassung des jungen Mannes einsetzen zu wollen. Andere deutsche Stellen sind eher an Erkenntnissen für die eigene Anti-Terrorfahndung interessiert.

BND und BfV bereiten Reise nach Kuba vor

Bereits Ende Januar 2002 erhalten deutsche Sicherheitsbehörden erstmals ein Angebot der USA, den Inhaftierten nach der Überstellung nach Guantanamo selber zu befragen. Eine Woche später – unmittelbar vor einer USA-Reise des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder – beschäftigt sich eine hochkarätige Runde im Kanzleramt mit dem US-Angebot. Der Fall Kurnaz kommt bei der Kanzlerreise nicht zur Sprache. In den anschließenden Monaten bis September wird der Guantanamo-Besuch von BND- und BfV-Mitarbeitern vorbereitet. Das Bundeskriminalamt wird mit Hinweis auf den nachrichtendienstlichen Charakter der Befragung von der Reise ausgeschlossen.

Verhinderte Freilassung im Herbst 2002

Auf Grund der fehlenden Terrorismusbeweise lassen die USA im Oktober 2002 durchblicken, Kurnaz freilassen zu wollen. In Deutschland stößt die Ankündigung jedoch auf wenig Gegenliebe. Bei einer Besprechung Ende Oktober im Bundeskanzleramt fällt die Entscheidung: Der gebürtige Bremer soll nicht nach Deutschland zurückkehren, weil ein Guantanamo-Heimkehrer ein Sicherheitsproblem sein könnte. Da auch die Türkei ihren Staatsbürger nicht aufnehmen will, bleibt Kurnaz in US-Haft. Erst im Januar 2006 kommt Bewegung in die Sache, als Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fall bei ihrem Antrittsbesuch in Washington anspricht. Seitdem verhandelten deutsche und US-Diplomaten über die Freilassung des "Bremer Taliban" und seine Rückkehr.

Angst vor dem Weihnachtsmann?

Wie Kurnaz die viereinhalbjährige Haft in einer winzigen Zelle mit zwei Mal 15 Minuten Ausgang in der Woche überstanden hat, ist unklar. Sein US-Anwalt, der ihn erstmals im Oktober 2004 in Guantanamo besuchte, sieht keine Gefahr, dass der mittlerweile 24-Jährige auf Rache sinnt. Er sei freundlich, hoffnungsvoll und witzig, beschrieb der Jurist vor wenigen Monaten seinen Mandanten. Medienberichten zufolge soll Kurnaz in Guantanamo den Koran studiert und einen muskulösen Oberkörper bekommen haben. Ein langer Bart und lange Harre ließen ihn wie einen Schiffbrüchigen aussehen. Auf die Warnung seines US-Anwalts, der Bart könne nach seiner Freilassung die Menschen erschrecken, soll Kurnaz geantwortet haben: "Wenn sie so viel Angst haben vor langbärtigen Männern, warum nennen sie dann nicht den Weihnachtsmann einen Terroristen?"