Interview

Armut-Studie des Instituts für Wirtschaft "Der Kindergarten ersetzt keinen Wintermantel"

Stand: 25.08.2007 19:51 Uhr

Die Armen sind nicht "ärmer" geworden und niedrige Einkommen stehen nicht unbedingt für Armut. Das stellt das Institut der deutschen Wirtschaft in seiner Studie "Armut in der Wohlstandsgesellschaft" fest. Wenn man die Zahl der ALG-II-Bezieher betrachtet, sieht die Lage allerdings ganz anders aus, sagt Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband im tagesschau.de-Interview. Einig sind sie sich, dass Arbeitslosigkeit das größte Armutsrisiko birgt.

tagesschau.de: Dem „durchschnittlichen“ Armen geht es heute besser, sagt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Sechs Prozent habe er mehr in der Tasche als 2001. Eine positive Tendenz?

Ulrich Schneider: Diese neue Studie lehnt sich an so genannte relative Armutsquoten an. Man kann das sicher alles berechnen, dann kommt man auch zu solchen Ergebnissen. Nur sagt das relativ wenig über Armut aus.

tagesschau.de: Auch das IW kritisiert, die übliche Armuts-Definition sage etwas über unterschiedliche Einkommen aus, nicht über tatsächliche Armut.

Schneider: Es macht nach wie vor Sinn, zu schauen, wie viel Menschen auf ALG-II-Niveau leben müssen. Dieses Niveau liegt weit unterhalb der Armutsschwelle. Fachleute sagen, mit diesem Geld kann man gerade mit Kindern nicht auskommen. Die Zahl derer, die darauf angewiesen sind, hat sich in den letzten Jahren von 3,6 auf fast acht Prozent verdoppelt.

Mittlerweile müssen 7,8 Millionen Menschen auf diesem Niveau leben! Ein weiterer wichtiger Indikator sind die überschuldeten Haushalte - das sind mittlerweile 3,1 Millionen. So etwas hätte das IW zur Kenntnis nehmen müssen.

tagesschau.de: Welche Definition von Armut haben Sie?

Schneider: Wenn jemand weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens hat, spricht man von einem erhöhten Armutsrisiko. Erst bei 50 Prozent spricht man von Armut. Diese 50-Prozent-Schwelle wurde im Armutsbericht der Regierung nicht berechnet. Das haben wir auch massiv kritisiert.

tagesschau.de: Die 60-Prozent-Marke betraf laut dem Armutsbericht 13,5 Prozent der Bevölkerung. Warum wurde nicht mit der 50-Prozent-Schwelle gerechnet?

Schneider: Offizieller Grund war, dass man sich auf EU-Ebene darauf verständigt habe. Keiner hätte aber Deutschland davon abgehalten, das dennoch zu berechnen. Wir gehen davon aus, dass man es nicht berechnen wollte, um keine öffentliche Diskussion über Armut zu bekommen.

Armutsrisiko

Ein erhöhtes Armutsrisiko hat nach dem Armutsbericht, wer unter 60 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens zur Verfügung hat. Berechnet wird das " bedarfsgewichtete Nettoäquivalenzeinkommen" aus dem Einkommen nach Steuern und Sozialabgaben inklusive Kindergeld etc. 2003 lag die 60-Prozent-Schwelle bei 938 Euro.

tagesschau.de: Weder Jugendliche noch die über 65-Jährigen sind in Deutschland überproportional von Armut betroffen, sagt das IW. Ist das eine richtige Analyse?

Schneider: Die ist völlig falsch. Wenn man die ALG-II-Schwelle heranzieht, muss man feststellen, dass Jugendliche weit überproportional betroffen sind. In Deutschland sind das mittlerweile fast zehn Prozent der Jugendliche bis 15 Jahre. Im Westen sind es sieben Prozent, im Osten sogar fast 25 Prozent der Kinder, die auf diesem Niveau leben müssen.

Richtig ist, dass Menschen über 65 unterproportional betroffen sind. Da kommt man nur auf 1,9 Prozent der Alten, die heute von solchen Fürsorge-Leistungen leben müssen. Das ist im Vergleich sehr wenig.

tagesschau.de: Das Gefühl ausgegrenzt zu sein, hänge eng mit Langzeitarbeitslosigkeit zusammen, sagt das IW. Wie sind da ihre Erfahrungen?

Schneider: Das ist richtig. Langzeitarbeitslosigkeit heißt auch, dass man immer mehr an sich zweifelt und immer mehr die Hoffnung aufgibt. Es bedeutet aber auch, dass man mit ALG II materiell auf ein Niveau fällt, wo man nicht mehr mithalten kann. Am Wochenende zu Hertha, der Musikunterricht für die Kinder, der Zoobesuch - all das ist mit ALG II nicht mehr drin. Das ist auch objektiv eine Ausgrenzung.

tagesschau.de: Der Schluss des IW: Entscheidend ist es, Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Das Wirtschaftsinstitut fordert deshalb den Ausbau des Niedriglohnsektors. Unterstützen Sie das?

Schneider: Wir brauchen ein Maßnahmen-Bündel. Ein Niedriglohnsektor allein ist nicht die Antwort. Der kann Sinn machen, wo es um sehr einfache Dienstleistungen geht. Wir brauchen aber auch wieder gut bezahlte sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, damit wir unsere sozialen Sicherungssysteme auch dauerhaft finanziert bekommen.

Zusätzlich brauchen wir ein Bekenntnis zum zweiten Arbeitsmarkt. Wir haben fünf Millionen Arbeitslose, davon ein Drittel Langzeitarbeitslose. Wir sollten uns nichts vormachen: Auch bei Einführung eines Niedriglohnsektors werden wir viele nicht mehr integrieren können. Für diese Menschen müssen wir vernünftige Arbeitsplätze vorhalten. Wir brauchen die Diskussion darüber, wie groß ein solcher zweiter Arbeitsmarkt sein muss und darf.

tagesschau.de: Das IW fordert mehr frühkindliche Förderung, mehr Bildung und eine ausgeweitete Ganztagsbetreuung für Kinder. Sind Sie damit einverstanden?

Schneider: Sicherlich brauchen wir mehr Bildung. Wir stellen fest, dass Kinder aus bildungsfernen Milieus das größere Armutsrisiko haben. Im Alter von sieben oder zehn Jahren sind häufig schon solche Defizite und Ungleichheiten der Chancen da, dass die nur sehr schwer zu korrigieren ist. Im Grunde genommen braucht man schon im Kindergarten eine gute Bildung, nicht nur eine Betreuung. Da gebe ich dem IW Recht.

Es macht aber keinen Sinn, die Dinge gegeneinander auszuspielen. Der gute Kindergarten ersetzt keinen Wintermantel und keine Winterschuhe. Wir brauchen beides: Infrastruktur für die Kinder und die notwendigen Mittel, damit Eltern für ihre Kinder sorgen können. Das ist heute nicht gegeben. Deshalb fordern wir, den Regelsatz beim ALG II um mindestens 19 Prozent anzuheben.

Das Interview führte Wolfram Leytz, tagesschau.de