Journalismus und Trauma: Interview mit Mark Brayne "Wie eine Rakete ganz tief in die Psyche hinein"
Um „objektiv“ zu bleiben, ringen Reporter auch in grausamen Situationen um emotionalen Abstand. Doch wer keine "Sprache" für seine Gefühle findet, sich seine Verwundbarkeit nicht eingesteht, dem kann ein Trauma tiefe Spuren in die Seele brennen, erklärt der Traumaexperte und frühere BBC-Korrespondent Mark Brayne.
Reporter betrachten sich traditionell als distanzierte Beobachter. Um „objektiv“ zu sein, versuchen sie, sich emotional fern zu halten, finden keine „Sprache“ für ihre Betroffenheit. Wer sich Verwundbarkeit nicht eingesteht, dem kann ein Trauma tiefe Spuren in die Seele brennen, erklärt der Traumaexperte und frühere BBC-Korrespondent Mark Brayne anlässlich der Trauma-Konferenz in Hamburg.
tageschau.de: Was haben Journalismus und Trauma miteinander zu tun?
Mark Brayne: „Wenn irgendwo eine Bombe explodiert, rennen die meisten Menschen weg. Nur wenige rennen hin. Und das sind die so genannten „First Responder“: Rettungskräfte, Polizisten - und natürlich Journalisten. Sie sind zuallererst am Unglücksort, werden mit grausamen Bildern konfrontiert. Während für Feuerwehrleute oder Ärzte psychologische Hilfe inzwischen selbstverständlich ist, sind Journalisten außen vor, grenzen sich aus dem Geschehen aus.
Keine „Sprache“ für eigene Verwundbarkeit
tagesschau.de: Warum machen sie das? Sie könnten doch diese Hilfe auch in Anspruch nehmen…
Brayne: „Wir haben kein Recht zu jammern, wenn wir uns das Leid der Menschen anschauen, über die wir berichten“, sagen Journalisten zu mir. Sie wollen nicht Teil des Geschehens werden, denn ihre Aufgabe ist es ja, darüber zu berichten. Dazu brauchen sie Distanz. Selbst unter Kollegen gab es lange keine „Sprache“, in der man sich über solche Erlebnisse unterhalten konnte.
tagesschau.de: Sie verwenden in diesem Zusammenhang manchmal den Begriff der „emotionalen Alphabetisierung“. Was bedeutet der?
Brayne: Ein emotional alphabetisierter Journalist kann „mit leiden“, weiß aber auch, wo seine Grenzen sind und wie er aus der Betroffenheit wieder rauskommt. Er wird – meine ich - menschlich und qualitativ bessere Arbeit leisten, wenn er sich über die psychologischen Grundregeln und über die Verwundbarkeit eines Menschen bewusst ist. Und zwar sowohl über seine eigene, als auch die des Opfers. Zwei Drittel der Opfer geben immerhin an, der Journalist habe ihr Leid nur noch schlimmer gemacht, die Befragung sei schmerzhaft gewesen.
Viele Journalisten machen das aber intuitiv richtig, gehen akkurat und empfindsam mit Betroffenen um. Es ist auch absoluter Quatsch zu sagen, alle Journalisten würden traumatisiert sein. Manche berichten ein ganzes Berufsleben lang über Krieg- und Krisengebiete und sie verkraften es. Sie lernen, damit umzugehen, härten vielleicht ab, verändern sich auf jeden Fall, aber werden nicht traumatisiert.
Die gefährlichen „harmlosen“ Situationen
tagesschau.de: Und in welchen Situationen passiert es dann doch? Gibt es dafür bestimmte Auslöser?
Brayne: Ja, und das sind oft ganz „harmlos“ erscheinende Situationen. Eine Journalistin, die schon 15 Jahre aus Krisengebieten wie Rumänien, Bosnien und Ruanda berichtet hatte, erlebte das am Strand von Sri Lanka nach dem Tsunami. Sie interviewte eine einheimische Frau, die alles verloren hatte: Mann, Kinder, Familie, Haus - einfach alles. Wie gesagt, diese Journalistin war robust, hatte viel Schreckliches und Grausames gesehen. Es waren die Augen dieser Frau, die sie umwarfen. Die totale Verzweiflung im Blick dieses Opfers. Die Journalistin konnte danach nicht mehr arbeiten. Das Trauma kam wie ein Tsunami auf sie zugerollt und hat sie emotional weggespült.
tagesschau.de: Schockieren denn die blutigen Bilder nicht viel mehr?
Brayne: Trauma ist etwas Besonderes. Man wird als Journalist und auch als Mensch nicht unbedingt direkt traumatisiert von dem Erlebten oder Gesehenen, sondern von dem, was man daraus macht. Ein Trauma unterscheidet sich von Stress, weil es plötzlich eintritt und das Bild einer sicheren Welt total zerrüttet. Das passiert meist in einem Flash, einem Augenblick, und geht ganz tief ins Gehirn hinein, bis hinunter in unsere Überlebensmechanismen. Deswegen ist der Anblick des abgetrennten Arms nach einem Bombenanschlag auf der Straße auch oft nicht so schlimm, wie der Blick in das Gesicht einer trauernden Mutter, die ihr Kind gerade bei einem Verkehrsunfall verloren hat. Diese „einfachen“ Bilder, treffen uns deshalb so, weil wir unsere inneren Verteidigungsmechanismen herunter gefahren haben und unvermittelt davon berührt werden.
„Wir sind zuerst Tiere, dann Menschen, dann Journalisten“
tagesschau.de: Sind es vor allem Bilder, die traumatisieren? Oder auch Gerüche, Geräusche oder andere Sinneseindrücke?
Brayne: Wir sind zuerst Tiere, dann Menschen, dann Journalisten. Unsere Sinne sind ständig auf der Lauer. Wir „riechen“ es, wenn etwas gefährlich wird. Ein traumatisches Erlebnis kann- über unsere Sinne hereinkommend - unsere Verteidigungsmechanismen austricksen und quasi wie eine tief fliegende Rakete, die wir auf dem Radarschirm des Bewusstseins nicht gesehen haben, in uns eindringen. Es brennt sich ganz tief in das Gehirn hinein. Je größer die Gefahr und der Schreck, desto mehr verknüpfen sich Erinnerungen mit dem Erlebten des Moments. Da kann es passieren, dass ein Journalist später beim harmlosen Geräusch eines zuziehenden Reißverschlusses plötzlich vor Augen hat, wie er nach dem Tsunami vor Ort dabei war, als Hunderte Leichensäcke zugezogen wurden.
„Der Fotograf bleibt in seinen Bruchstücken“
tageschau.de: Gibt es Unterschiede zwischen Fotojournalisten und schreibenden Kollegen?
Brayne: Fotografen scheinen eher gefährdet zu sein. Sie sind sehr nahe dran, müssen das Schlimmste erleben und sich gleichzeitig distanzieren. Der Körper ist anwesend, aber die Gedanken sind schon im Schneideraum. Der schreibende Journalist hat die Möglichkeit, mehr „Sinn“ aus dem Erlebten zu machen. Er setzt sich hin, schreibt eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende. Das hilft, schlimme Bilder zu verarbeiten. Der Fotojournalist riskiert, in seinen Bruchstücken zu bleiben.
"Temperatur im Journalismuskessel ist höher geworden"
tagesschau.de: Hat die Schnelligkeit der Nachrichten nicht viel verändert? Wird man heute schneller Opfer eines Traumas?
Brayne: Der Konkurrenzkampf ist riesig geworden. Nachrichtenkanäle senden rund um die Uhr, Journalisten bleiben im Kriegsfeld, sind eingebettet in Truppenaktionen in Afghanistan oder dem Irak. Ja, die Temperatur im Journalismuskessel ist viel höher geworden, seit ich als Korrespondent während des kalten Krieges gearbeitet habe. Und das bedeutet mehr direkte Auseinandersetzung mit grausamen Bildern und Kriegen, größere Gefahren und eine viel höhere eigene Verwundbarkeit.
Besser eine engagierte Debatte als Zensur
tageschau.de: Warum schauen wir Menschen uns solche Szenen überhaupt an?
Brayne: Es steckt in unserer Psyche, dass uns Gewalt fasziniert. Das hat auch mit unseren Überlebensmechanismen zu tun. Schon bei den Römern wurde Gewalt als Spektakel dargeboten, und zwar in viel ausgeprägterem Maße als heutzutage. Wir leben heute deutlich gewaltfreier. Neu ist allerdings, dass man sich mit einem Klick im Internet das Schlimmste ansehen kann, was Menschen sich antun können – Folter, Hinrichtungen und mehr. Das erfordert ein viel höheres Bewusstsein, was wir tun dürfen und was nicht im seriösen Journalismus. Das darf aber nicht in Zensur ausarten. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, lasst uns Amokläufe wie in Blacksburg nicht zeigen, weil dann jeder zum Gewehr greift und seinen Nachbarn umbringt. Wenn man Dinge zu sehr schönt – wie das in Amerika und in England mit den Bildern des Irak-Krieges gemacht wurde - dann verstehen die Menschen nicht mehr, was sie sehen. Es ist besser, wir führen eine erwachsene, engagierte Debatte darüber.
Die Fragen stellte Claudia Ulferts, tagesschau.de