Radfahren in Kabul Wo den fliegenden Tauben die Puste ausgeht
Auf chinesischen Fahrrädern wird in Kabul einfach alles transportiert: Holz, Hammelkeulen, ein paar Passagiere und deren Reisegepäck, Fladenbrote. Diese klapprigen Tretmühlen sind die Existenzgrundlage ganzer Familien. Umso verheerender ist das Verkehrschaos für Kabuls Radfahrer: Unfälle und Reifenpannen gehören zur Tagesordnung.
Wieder segelt eine schwarz lackierte "Flying Pigeon" quer über die Fahrbahn und landet "flügellahm" vor einer Bretterbude am Straßenrand. In Kabul gibt es tausende "fliegender Tauben". Die Einfachfahrräder aus China sind das klapprige Rückgrat im afghanischen Transportwesen. Harter Sattel, schlechte Bremsen und vor allem empfindliche Reifen. Das mangelhafte Fahrwerk ist Existenzgrundlage für ganze Familien. Ihr Startkapital besteht aus Schraubenschlüssel, Luftpumpe und Vulkanisierkleber. Der "Flicksofortservice" gehobener Ausstattung bietet dem wartenden Radfahrer außerdem Schutz vor dem Wetter und ein Glas Tee in einer windschiefen Bretterbude.
"Allzweckwaffe" Fahrrad
Der neue Kunde schiebt sein Rad unters Vordach und lädt ab: Ein Klafter Brennholz, Dutzende Fladenbrote und eine Hammelkeule. Den Wocheneinkauf für seine Familie hat er auf Gepäckträger und die Lenkerenden verteilt. Als dann der Reifen geplatzt ist, konnte er die Fuhre gerade noch zum Stehen bringen, diesmal wenigstens ohne Sturz.
Der Mechaniker dreht die chinesische Taube auf den Rücken und baut das Hinterrad aus, befreit den Schlauch aus dem völlig verdreckten Mantel und reicht ihn seinem Sohn. Der pumpt ihn wieder auf und drückt die zischende Gummischlange in einer alten Blechschüssel unter Wasser, um das neue Loch zu finden.
Gefährliches Unternehmen: Radfahren in Kabuls Chaos
Radfahren in Kabul ist gefährlich, nicht nur wegen der schlechten Wegstrecke. Autos bremsen nicht, sie hupen. Ständig gibt es Unfälle. Außerdem regelt keine Straßenverkehrsordnung, wie viele Personen höchstens auf einem Fahrrad unterwegs ein dürfen. Ein bis zwei "Passagiere" gelten als normal, dazu Gepäck. Seit dem Ende der nächtlichen Ausgangssperre radeln viele Afghanen auch nach Einbruch der Dämmerung ohne Licht durch die Dunkelheit. Nachfolgende Autos auf sich aufmerksam zu machen, ist dabei Aufgabe des Fahrgastes auf dem Gepäckträger. Wer rechtzeitig mit der Taschenlampe Autos nach hinten entgegen leuchtet, darf hoffen, mit dem nötigen Seitenabstand überholt zu werden.
Quasi unmöglich: Pannenfrei durch die Stadt
Der Schlauch ist geflickt, ein afghanischer Geldschein wechselt den Besitzer. Kabul ist Boomtown für diese Low-Budget-Dienstleistung. Denn hier rechnet niemand ernsthaft damit, dass eine der fliegenden Tauben aus China die afghanische Hauptstadt durchquert, ohne dass ihr dabei irgendwo die Luft ausgeht.
Heiner Heller, ARD-Hauptstadtstudio