Der Fall der Mauer im TV "Was sollen wir jetzt machen?"
Die Nachricht von der Öffnung der innerdeutschen Grenze kam am frühen Abend des 9.11.1989. Die Nachrichtensprecher Angelika Unterlauf und Jo Brauner erzählen, wie "Aktuelle Kamera" und Tagesschau reagierten - und welche Aufregung damals herrschte.
tagesschau.de: Die Öffnung der Mauer wurde in der legendären Pressekonferenz von Günter Schabowski am 9. November 1989 fast beiläufig mitgeteilt. Wie haben Sie diesen historischen Moment erlebt?
Angelika Unterlauf: Ich saß in der Nachrichtenredaktion und las die Meldungen, die schon für die Sendung vorbereitet waren. Die berühmte folgenschwere Meldung war noch nicht dabei, denn die Pressekonferenz Schabowskis lief noch. Kurz nach 19 Uhr riefen die Redakteure in einer Abteilung im Zentralkommitee an, wo die Regierung immer über die Inhalte der Sendung entschied, und fragten: "Schabowski hat von einer neuen Reiseregelung gesprochen. Wir haben aber keine offizielle Meldung von Nachrichtenagenturen. Was sollen wir jetzt machen?" Ich bin dann kurz vor der Sendung noch ohne Meldung ins Studio gegangen. Es kam öfters vor, dass noch Meldungen in die Sendung gebracht wurden und ich sie prima vista lesen musste. Die Meldung selbst hat mich nicht überrascht - erst wenige Tage zuvor war schon eine neue Reiseregelung verkündet worden, über die sich alle nur lustig gemacht hatten. Ich habe sie also genommen wie jede andere Meldung, die hineingereicht wurde. Ich dachte aber kurz, dass diese Änderung gut ist für die Menschen, die ausreisen wollen, weil sie dann nicht mehr über die Botschaften in Prag, Budapest oder Warschau flüchten müssen. Aber den Gedanken habe ich schnell beiseite gewischt, ich musste ja weiterlesen.
tagesschau.de: Sie haben also noch nicht geahnt, welche Tragweite diese Meldung hatte?
Unterlauf: Nein. Auch in der Auswertung nach der Sendung war das kein Thema. Keiner hat etwas dazu gesagt, vielleicht wollte sich auch keiner festlegen. In der Redaktion der Aktuellen Kamera hatte sich ja über die Jahrzehnte Mehltau angesammelt, der lag auch über der Auswertung der Sendung. Erst nach 20 Uhr kamen die ersten Anrufe von Grenzübergangsstellen, in denen berichtet wurde, dass sich dort Menschen versammelten, die in den Westen wollten, weil Schabowski die neue Regelung mitgeteilt hatte. Und als ich nach Hause fuhr, konnte ich sehen, wie am Grenzübergang an der Bornholmer Brücke die Straßen voll von Menschen waren. Zu Hause habe ich dann den Fernseher angemacht und den berühmten Satz von Hans-Joachim Friedrichs in den Tagesthemen gehört: "Die Tore in der Mauer stehen weit offen." Und von da an habe ich nicht mehr geschlafen in dieser Nacht.
"Helle Aufregung" in Hamburg
tagesschau.de: Wie verlief der Abend in der Tagesschau-Redaktion?
Jo Brauner: Ich konnte in meinem Sprecher-Zimmer das DDR-Fernsehen empfangen und bin nach dem berühmten Schabowski-Satz in die Redaktion gerannt. Dort herrschte helle Aufregung. Das irgendetwas passieren würde - wie ja schon in den Tagen zuvor - darauf war man eingestellt. Dass etwas historisch Bedeutendes geschieht, hat natürlich niemand erwartet. Die Tagesschau zeichnet sich ja durch eine gewisse Beherrschtheit aller Beteiligten aus, aber dass es an diesem Abend anders war, sieht man der Sendung noch heute an.
tagesschau.de: Woran kann man das erkennen?
Brauner: Ich sitze da mit einer offenen Jacke, die an der Seite sogar umgeschlagen ist. Das wäre normalerweise nie passiert, weil der Regisseur mir gesagt hätte, ich sollte die Jacke zuknöpfen. Ich las also eine Meldung, die halbwegs andeutete, was Schabowski gesagt hatte, dann kam ein Student und reichte wieder eine Meldung hinein. Für uns war das zwar - wie für Angelika - ganz normal, vom Blatt zu lesen. Und doch herrschte Aufregung. Die Bedeutung dieses Augenblicks haben wir aber noch nicht erkannt. Ich bin dann nach Hause gegangen, habe den "Sender Freies Berlin" [Der Vorgänger des heutigen Radio Berlin Brandenburg] eingeschaltet, die sich in den Armen liegenden Menschen gesehen und mit ihnen geweint.
In Gedanken bei den Verwandten
tagesschau.de: Gab es auch einen persönlichen Grund für diese emotionale Reaktion?
Brauner: Ich komme aus Breslau und kam gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit meiner Familie nach Thüringen. Ich bin noch vor dem Bau der Mauer in den Westen gegangen, meine Eltern aber blieben dort. Deshalb war immer, wenn ich Nachrichten las, auch der Gedanke an meine Familie da. Manche Berichte in den Tagen nach dem 9. November empfand ich so, als würden meine eigenen Angehörigen gezeigt. Wenn da geweint wurde, musste ich den Regisseur bitten, den Ton herunter zu drehen, weil es mir so nahe ging. Ich bin nah am Wasser gebaut.
tagesschau.de: Lag da die Versuchung nicht nahe, den Verwandten über die Sendung ein Zeichen zu geben?
Brauner: Meine Mutter hatte am 19. Mai Geburtstag, und manchmal habe ich gebeten, an dem Tag die Nachrichten lesen zu dürfen. Ich nahm dann einen Bleistift in die linke Hand, und das verstand meine Mutter, weil ich Rechtshänder bin. Solche Kleinigkeiten halt. Ich war wahrscheinlich nicht der einzige, der das gemacht hat.
Angelika Unterlauf wurde 1946 in Grönigen (Sachsen-Anhalt) geboren und arbeitete nach einer Ausbildung als Bauzeichnerin ab 1969 beim Sender "Stimme der DDR", wo sie unter anderem eine populäre Rockmusiksendung moderierte. Ab 1977 war sie Sprecherin der Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera". Im Juli 1990 sprach sie zum letzten Mal die Nachrichten und wurde 1991 gekündigt. Danach arbeitete sie für Spiegel TV und Sat.1.
Jo Brauner wurde 1937 in Breslau geboren. und kam gegen Ende des Kriegs nach Saalfeld (Thüringen). Die DDR verließ er noch vor dem Bau der Mauer und begann nach einem Deutsch-Studium 1964 als Sprecher beim NDR-Hörfunk. Ab 1974 arbeitete Brauner auch als Sprecher bei der Tagesschau. Im Jahr 2000 wurde er dort Chefsprecher. Am 9. Oktober 2004 ging er nach 30 Jahren Tätigkeit als Sprecher in Rente.
"Trauerspiel endlich zu Ende"
tagesschau.de: Ahnten Sie, dass mit dieser Nachricht auch das Ende der DDR eingeläutet war?
Unterlauf: Es war ja schon seit einigen Wochen so, dass man auf alles gefasst sein musste. Mitte Oktober musste Honecker gehen, und das war schon wie Fasching. Endlich passierte etwas! Ob ich schon gedacht habe, dass dies das Ende der DDR bedeutet, weiß ich nicht mehr. Aber wenn ich es gedacht habe, hat es mich nicht so sehr beeindruckt. Ich war wahrscheinlich nur froh, dass das Trauerspiel endlich zu Ende war. Ich war Ende Oktober das erste Mal im Westen gewesen, auf Verwandtschaftsbesuch in Bayern. Und meine Verwandten haben mich dann gleich auf einen Kurztrip nach Paris mitgenommen. Ich fand den Westen toll. Ich dachte, es gibt eine Welt hinter der Grenze und es wäre toll, wenn sich die Grenze öffnen würde und man sich alles anschauen könnte. Das war das Grundgefühl.
Ich kam zurück, legte meinen Töchtern die mitgebrachten T-Shirts auf den Tisch, und dann sind wir gemeinsam auf den Alexanderplatz demonstrieren gegangen. Später habe ich mich über den Runden Tisch von Regierung und Opposition gefreut und habe gebetet, dass die Stasi wirklich abgeschafft wird. Und den Gedanken, dass wir eine gemeinsame Kultur und Sprache haben und deshalb durchaus irgendwann zusammenkommen können, hatte ich schon vorher. Das habe ich mir auch nicht nehmen lassen. Das eine denken und etwas anderes sagen, konnte man in der DDR. Das wusste man auch.
Alte Gewohnheiten blieben
tagesschau.de: Nach dem 9. November herrschte erst recht Aufbruchstimmung, andererseits auch Unsicherheit. Hat sich dadurch in den Tagen danach die Arbeit verändert?
Unterlauf: In der Aktuellen Kamera hat sich die Arbeit zunächst nicht sehr verändert. Die Chefs mussten sich weiter rückversichern. Vielleicht haben sie nicht mehr ganz so oft im ZK angerufen. Aber sie waren ja geübt, sich anzupassen, die eigenen Gedanken zu haben und etwas anderes zu machen. Da wurde dann vielleicht aus alter Gewohnheit 20 Minuten über Kundgebungen der PDS berichtet, bevor am Ende der Sendung über den Rest der Welt berichtet wurde.
Brauner: Im Westen herrschte Euphorie. Aus den nahen Grenzgebieten wurden Menschen eingeladen. Ich war damals auch Stadionsprecher beim Hamburger Sportverein und habe unsere Gäste aus der DDR begrüßt, und da klatschte das ganze Stadion. Wenn ich damals das DDR-Fernsehen gesehen habe, hat mich gestört, dass es sehr schnell um das Materielle ging, und dass das vielleicht auch gezielt in den Vordergrund gerückt wurde. Natürlich gab es einen Nachholbedarf. Aber das war nicht der Ausgangspunkt der Demonstrationen gewesen. Es ging um das Eingesperrtsein.
Jobverlust als Schock und Befreiung
tagesschau.de: Im Juni 1990 wurden Sie, Frau Unterlauf, vom Sender genommen. Es gebe Morddrohungen gegen Sie, und Sie seien den Zuschauern nicht mehr zumutbar. Konnten Sie das nachvollziehen?
Unterlauf: Es war einerseits ein Schock, weil ich nicht wusste, wie es weitergeht, aber andererseits eine Befreiung. Ich hatte schon 1987 darum gebeten, wieder zum Rundfunk zurück zu können, wo ich vorher gearbeitet hatte, Das wurde mit den ironischen Worten abgelehnt, ich wolle wohl erschossen werden, man brauche mein Gesicht. Da wusste ich, dass ich aus der Nummer so schnell nicht wieder herauskomme. Aber zum Schluss merkte ich, dass sich etwas veränderte und ich nicht mehr auf diesen Stuhl passte. Diese halbherzigen Nachrichten, dieses Fremdbestimmte passte nicht mehr zu meinem Lebensgefühl. Ich spürte, dass das nicht mehr meine Arbeit ist.
tagesschau.de: Wie blicken Sie heute auf diesen Tag zurück?
Brauner: Der Fall der Mauer und das Ende des Mordens an der Grenze war für mich die schönste und emotionalste Meldung meiner Berufszeit, aber auch die schwerste – wegen meiner Verwandtschaft. Noch heute muss ich aufpassen, wenn ich bei Berichten über diese Zeit an mich halte. Abgesehen von meiner jetzt nahezu 50-jährigen Ehe und meinen inzwischen erwachsenen tollen Töchtern war das das gravierendste Ereignis in meinem Leben.
Unterlauf: Für mich auch, weil ein völlig neuen Leben anfing. Wir hatten unsere geheimen Gedanken und Gefühle, die man nicht äußern konnte, und das ist alles weggefallen. Es war tatsächlich eine Befreiung, und das ist es auch noch nach 30 Jahren. Und es ist so lebendig, als wäre es gestern gewesen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de