Kretschmers Treffen mit Putin Wo Russlandnähe Wähler anzieht
Mit seinem Treffen mit Russlands Präsident Putin macht Sachsens Ministerpräsident Kretschmer auch ostdeutsche Identitätspolitik, sagt Politikwissenschaftlerin Lorenz. Sie erklärt im tagesschau.de-Interview, welche Wähler das anspricht.
Auf einem Wirtschaftsgipfel in Sankt Petersburg hat Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sich mit Russlands Präsident Wladimir Putin zum Gespräch getroffen. Ein Thema sei die Aufhebung der EU-Sanktionen gewesen, erklärte Kretschmer und betonte eine besondere Verbundenheit Ostdeutschlands mit Russland.
Das Treffen löste Empörung aus. Viele Bundespolitiker wie CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, der frühere CDU-Europapolitiker Elmar Brok und andere kritisierten den Auftritt. Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, forderte Kretschmer sogar auf, seinen außenpolitischen Berater zu "feuern".
Aber war die Begegnung ein solcher Fehltritt? Für die Politologin Astrid Lorenz von der Universität Leipzig ist sie vor allem ein Zeichen für Sachsens neues Selbstbewusstsein.
tagesschau.de: Was bezweckt Kretschmer als Landespolitiker ohne außenpolitisches Mandat mit solch einem Treffen?
Astrid Lorenz: In Deutschland können auch Landespolitiker durchaus Außenpolitik betreiben. Da viele außenpolitische Fragen Landesinteressen berühren, müssen die Länder in Entscheidungen einbezogen werden. Das gilt auch für die Positionsbildung innerhalb der EU - denn die Sanktionen gegenüber Russland wurden ja von der EU verhängt.
In Kretschmers Fall geht es zunächst um die Vertretung wirtschaftlicher Interessen. In Ostdeutschland kritisieren viele Unternehmensvertreter nicht nur, dass die Sanktionen gegen Russland politisch nicht effektiv seien, sondern auch, dass sie die Entwicklung der ohnehin noch immer relativ schwachen ostdeutschen Wirtschaft behinderten: Man könne die traditionellen Netzwerke und Standortvorteile nicht nutzen, was gerade angesichts der zu erwartenden Folgen des Brexit in Zukunft noch stärker zu Buche schlage.
Astrid Lorenz hat seit 2010 den Lehrstuhl "Politisches System der Bundesrepublik Deutschland/Politik in Europa" an der Universität Leipzig inne. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die politischen Systeme Europas, Verfassungspolitik und die Demokratisierung in Ostdeutschland.
tagesschau.de: Er habe das Gespräch "mit einer ganz großen positiven Zugewandtheit zu Russland und den Menschen, die da leben" geführt, betonte Kretschmer - und schloss alle Ostdeutschen darin ein: "Wir kennen die Gefühle der Menschen, wir kennen auch die Geschichte." Ist die Verbindung der neuen Bundesländer mit Russland tatsächlich so eng?
Lorenz: In ganz Ostmitteleuropa ist in den vergangenen Jahren ein neues Selbstbewusstsein gegenüber der EU entstanden, die oft als westlich dominiert wahrgenommen wird. In Ostdeutschland äußert sich das in ähnlicher Weise in einem Aufbegehren gegenüber der Bundespolitik. Ich denke, dass Kretschmer diese Stimmungen in der Bevölkerung ansprechen will, die man dort unabhängig von der politischen Selbstverortung als "rechts" oder "links" erkennen kann. Dazu gehört auch eine deutlichere Bezugnahme auf scheinbare oder tatsächliche eigene Interessen und Stärken. Eine solche Politik ist vor allem dann erfolgreich, wenn es darum geht, sich von einer wenig erfolgreichen Bundespartei abzugrenzen.
"Gewandeltes Identitätsempfinden" der Ostdeutschen
tagesschau.de: Kretschmer erklärte später im Interview mit MDR Sachsen, die neuen Bundesländer hätten eine "eigene Meinung zu dieser Frage" und "eine besondere Sichtweise in Richtung Osteuropa". Was meint er damit?
Lorenz: Es gibt in Ostdeutschland viele Menschen, die in jüngerer Zeit den Abbruch der Kontakte nach Osteuropa wehmütiger und kritischer sehen. Das ist interessant, weil lange Zeit der Blick überwiegend gen Westen ging und man sich eher an dessen Werten, Politik und Wohlstand maß.
Osteuropa hat in den 90er-Jahren die meisten nicht interessiert. Dadurch, dass die Ostdeutschen 1990 eine schnelle Wirtschafts- und Währungsunion forderten und durchsetzten, verteuerten sich die ostdeutschen Produkte auf einen Schlag massiv und viele vorhandene Strukturen brachen zusammen. Auch die vorhandenen Sprach- und Kulturkenntnisse wurden nicht genutzt.
Aber im Zuge eines gewandelten Identitätsempfindens interpretieren viele Menschen diese Entwicklungen um. Das schlägt sich auch in Forderungen wie einem Ende der EU-Sanktionen nieder, wie sie nun Politiker aller östlichen Länder erheben.
tagesschau.de: Lässt sich diese "besondere Sichtweise" denn überhaupt demographisch festmachen?
Lorenz: Ungefähr 75 Prozent der sächsischen Wahlberechtigten sind über 40, die meisten deutlich älter. Für sie spielt die DDR schon eine Rolle, wenngleich selten im Sinne eines "Früher war alles besser", sondern eher im Sinne kultureller Eigenheiten und struktureller Interessen. Viele Menschen leben außerhalb größerer Städte. Aus diesen ländlichen Regionen sind die jüngeren Menschen, die ja oft überlieferten Narrativen widersprechen, in großer Zahl fortgegangen. Ihr Widerspruch fehlt in gewisser Weise - und die Älteren entwickelten dadurch eine homogenere Sichtweise auf die Vergangenheit und eigene Identität.
tagesschau.de: Kretschmer spricht von einer "Befriedung des Ukrainekonflikts, in dem jeden Tag Menschen sterben", ohne die Konfliktparteien zu benennen, bemängelt einen "Zungenschlag von amerikanischen Interessen" in der Nord-Stream-Debatte. Diese Wortwahl erinnert an staatliche und staatsnahe Akteure Russlands, die damit die Position des Kremls rechtfertigen. Woher kommt es, dass der Ministerpräsident Sachsen nun so spricht?
Lorenz: Die Formulierungen ähneln dem, was in Teilen der Bevölkerung und in den sozialen Netzwerken zu hören und zu lesen ist. Vermutlich möchte er zeigen, dass er diese Stimmungen aufgreift und politisch vertritt.
Versuch, AfD-Wähler für sich zu gewinnen
tagesschau.de: Woher kommt Kretschmers plötzliche demonstrative Hinwendung zu Russland? Ist alles nur Wahlkampf auf Länderebene - und wenn ja, welche Wählerklientel will er damit erreichen?
Lorenz: Hier geht es auch um eine Form von Identitätspolitik, bei der man sich gegenüber anderen als Kollektiv positioniert. Alle ostdeutschen Ministerpräsidenten haben sich unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit für ein Ende der EU-Wirtschaftssanktionen ausgesprochen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Sanktionen ja nicht alle Wirtschaftsbereiche betreffen. Man kann durchaus politisch hinterfragen, ob die Sorge um die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland - auch wenn sie für das europäische Wertesystem und seine Sicherheitsinteressen elementar ist - von der aktuellen Form der EU-Sanktionen sinnvoll abgebildet ist.
tagesschau.de: Immer wieder wird Kretschmer von Kritikern eine zu unscharfe Abgrenzung zur AfD vorgeworfen, die über enge Russlandverbindungen verfügt. Wie ist vor diesem Hintergrund Kretschmers Treffen mit Putin zu bewerten?
Lorenz: Gegenüber der AfD hat sich Herr Kretschmer schon oft abgegrenzt. Er hat sich auch öffentlich darauf festgelegt, keine Koalition mit ihr einzugehen. Aber er wird sicher versuchen, die Menschen, die die AfD gewählt haben oder zu wählen beabsichtigen, für sich zu gewinnen. Viele von ihnen haben ja in der Vergangenheit schon die Linke gewählt, die CDU oder eine andere Partei. Das Wahlverhalten ist in den östlichen Bundesländern bekanntlich allgemein sehr volatil. Mit russlandfreundlichen Positionen kann man Wähler der Linken ähnlich gut erreichen wie Wähler der AfD. Es ist auffallend, dass in Sachsen nur die Grünen Kretschmers Position zu Russland aktiv widersprechen.
tagesschau.de: Tut sich Kretschmer im Wahlkampf mit diesem Auftreten tatsächlich einen Gefallen? Oder werden ihn potenzielle Wähler dafür abstrafen?
Lorenz: Bestimmte potenzielle Wähler werden seine Position mit Sicherheit nicht teilen. Die Frage ist, ob er ihnen seine Position inhaltlich genauer vermitteln kann. Unter Umständen wird er mit seiner Position mehr Unterstützer für sich mobilisieren als verlieren, aber dies ist letztlich nicht wirklich kalkulierbar. Die öffentliche Wahrnehmung wird auch davon abhängen, ob die andersfarbigen Regierungen der anderen ostdeutschen Länder bei ihrer ebenfalls sanktionskritischen Position bleiben. Dann würde dies weniger als Putinfreundlichkeit des sächsischen CDU-Spitzenkandidaten denn als parteiübergreifende ostdeutsche Position interpretiert werden.
Die Fragen stellte Eva Steinlein, tagesschau.de.