Bilanz zu Menschenrechten in Deutschland "Manchmal ist die Polizei rechts blind"
Wenn es um Menschenrechte geht, sieht sich Deutschland oft als Klassenprimus. Doch eine UN-Überprüfung bringt trotz einer insgesamt guten Bilanz auch Mängel ans Licht. Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, Koenigs, kritisiert gegenüber tagesschau.de beispielsweise die Polizei. Sie sei bisweilen rechts blind.
tagesschau.de: Vier Jahre sind seit der letzten Prüfung Deutschlands vor dem UN-Menschenrechtsrat vergangen. Damals hatten Sie Deutschland beim Thema Menschenrechte Selbstgefälligkeit vorgeworfen. Was hat sich seitdem getan?
Tom Koenigs: Bedauerlicherweise sehr wenig. Der Nationale Bericht, den Deutschland in Genf vorgelegt hat, sieht immer noch aus wie eine Pflichtübung. Auf die Empfehlungen von vor vier Jahren ist man in sehr geringem Maße eingegangen.
Tom Koenigs ist Bundestagsabgeordneter der Grünen und Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Der Bundestagsausschuss soll Verletzungen von Menschenrechten korrigieren und Gefahren vorbeugen - nicht nur im Inland. Koenigs ist außerdem im Vorstand von UNICEF tätig.
tagesschau.de: Nach dem letzten "Menschenrechts-TÜV" hatte die Bundesregierung Besserung beim Schutz vor Folter sowie größere Bildungschancen für Kinder zugesagt. Wurden diese Versprechen eingelöst?
Koenigs: Beim Schutz vor Folter ist überhaupt nichts passiert. Die Nationale Stelle zur Verhütung der Folter ist nach wie vor so schwach ausgestattet, dass sie ihren Aufgaben nicht nachkommen kann. Und in der Frage der Bildungschancen bleibt die Bildung der Eltern ein ganz entscheidendes Kriterium für den Erfolg der Kinder. Da hat sich trotz der deutlichen Kritik nichts geändert.
tagesschau.de: Welche Vorwürfe sollten Deutschland in Genf am peinlichsten sein?
Koenigs: Peinlich ist, dass einige der UN-Konventionen nicht ratifiziert worden sind. Zum Beispiel die Wanderarbeiterkonvention, die illegal hier lebenden Menschen Zugang zu Gesundheitsdiensten geben würde. Oder die Konvention der UN gegen Korruption. Deutschland ist bei diesem Abkommen, das viele Staaten ratifiziert haben, immer noch nicht weiter.
In Sachen Anti-Rassismus-Konvention müssen wir uns vorwerfen lassen, dass wir im Fall Sarrazin nicht korrekt vorgegangen sind, weil wir unsere Bürger nicht vor seinen Äußerungen geschützt haben. Wir haben Elemente von Anti-Islamismus in der Gesellschaft, mit denen wir nicht aktiv genug umgehen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert eine umfassende Strategie gegen Diskriminierung. Und die haben wir nun wirklich nicht.
"Die Polizei ist manchmal rechts blind"
tagesschau.de: Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, nennt das Verhalten der deutschen Polizei problematisch. Wie stehen Sie dazu?
Koenigs: In manchen Polizeidirektionen ist die Polizei rechts blind. Wir werden das am 1. Mai wieder sehen, wenn die Nazis zu Demonstrationen aufrufen. Da ist Deutschland sehr weit beim Schutz der Nazis und sehr brutal bei der Verfolgung derer, die gegen die Nazis demonstrieren.
tagesschau.de: Wofür sollte Deutschland gelobt werden?
Koenigs: Das juristische Instrumentarium Deutschlands gegen Menschenrechtsverletzungen ist sehr stark. Und wir setzen auch die Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs um. Zum Beispiel bei dem Urteil zur Sicherheitsverwahrung, das realisiert wurde - wenn auch etwas verzögert.
tagesschau.de: Welche Forderungen anderer Staaten halten sie für absurd?
Koenigs: Zum Beispiel wird Deutschland von den USA wegen seines Umgangs mit der Scientology Church kritisiert. Während wir der Meinung sind, dass die Vereinigung genauer beobachtet werden muss, sieht Washington in seinem Bericht die Religionsfreiheit in Deutschland verletzt.
tagesschau.de: Was halten Sie von dem System des "UN-Menschenrechts-TÜVs", in dem Länder wie China und der Iran den Spieß umdrehen können?
Koenigs: Für jeden Staat ist es schwierig, Kritik von einem anderen einzelnen Staat zu akzeptieren. Da ist es viel leichter, die Kritik durch eine regelmäßige und multilaterale Institution anzunehmen, weil sie dann nicht in nationalistische Schubladen gesteckt werden kann. Da will sich keiner blamieren, gerade weil es jeden trifft. Das Verfahren in Genf ist eines der innovativsten Elemente des Menschenrechtsrates und wurde von Deutschland auch sehr gepriesen. Deshalb sollte man dieses Instrument hochhalten und juristisch genau beachten. Dass sich einige Staaten verweigern, heißt nicht, dass das Instrument falsch ist.
"Softe Empfehlungen, aber wirkungsvoll"
tagesschau.de: Deutschland ist nicht verpflichtet, Änderungsvorschläge aus Genf umzusetzen. Welchen Sinn macht dann der UN-Menschenrechtrat?
Koenigs: Das ist natürlich ein softes Gremium mit soften Empfehlungen. Das Verfahren ist für das Anlegen juristischer Verdikte auch nicht geeignet. Trotzdem ist das nicht zu unterschätzen. Schauen Sie sich an, wie intensiv Deutschland sich bemüht hat, wieder in den Rat reinzukommen. Ein anderes Beispiel ist Libyen: Als es einen Vorsitz hatte, hat man sich unglaublich aufgeregt. Doch dann haben die das ganz gut gemacht. Die Prozesse gehen zwar nicht nach dem Motto "1 plus 1 gleich 2" voran, aber sie haben eine integrative Wirkung.
tagesschau.de: Was passiert mit dem Mängelschein?
Koenigs: Es wird aus Genf einen Bericht mit Empfehlungen geben, zu denen Deutschland erst einmal Stellung nehmen kann. Im Oktober wird der Bericht dann Berlin zugeleitet. Deutschland kann mit den Empfehlungen dann umgehen, wie es will. Wenn man aber wieder für den Menschenrechtsrat kandidieren will, werden die anderen Staaten prüfen, wie man hier mit den Empfehlungen umgegangen ist. Wenn wir Empfehlungen an den Iran geben, wünschen wir uns ja auch, dass Teheran das Wort für Wort umsetzt. Wenn wir uns selbst nicht an das halten, was andere Regierungen uns ins Stammbuch schreiben, sind wir unglaubwürdig.
Das Interview führte Florian Wöhrle, tagesschau.de