Interview

Interview mit Kinderschutzbund-Präsident Hilgers Mehr Geld allein reicht nicht!

Stand: 21.09.2007 18:38 Uhr

Rund 2,6 Millionen Kinder in Deutschland sind von Armut bedroht. Viele können deshalb nicht zur Klassenfahrt, anderen fehlt das Pausenbrot, und manche müssen auch im Winter Sandalen tragen. Für alle gilt: Im Bildungsprozess haben sie kaum Chancen. tagesschau.de sprach darüber mit Kinderschutzbund-Präsident Hilgers.

Rund 2,6 Millionen Kinder in Deutschland sind laut Kinderschutzbund von Armut bedroht. Viele können deshalb nicht zur Klassenfahrt, anderen fehlt das Pausenbrot, und manche müssen auch im Winter Sandalen tragen. Für alle gilt: Im Bildungsprozess haben sie kaum Chancen.Tagesschau.de fragte den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, wie Maßnahmen gegen Kinderarmut in Deutschland aussehen könnten.

tagesschau.de: Herr Hilgers, nach Ihren Angaben leben rund 700.000 Kinder in Familien, deren Eltern trotz Arbeit auf ALG II als ergänzende Hilfe angewiesen sind, und weitere 1,9 Millionen Kinder, die von 208 Euro, also dem Kinderanteil bei den Hartz-IV-Berechnungen, leben müssen. Wie können denn "konkrete Hilfen", von denen Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering spricht, für diese Kinder aussehen?

Heinz Hilgers: Was Herr Müntefering genau meint, weiß ich nicht. Aber die Bundesregierung hat 2005 die einmaligen Beihilfen für Kinderbekleidung und Schuhbedarf abgeschafft. Nach dem Motto: Jetzt geben wir den Eltern das Geld direkt, geben ihnen ein paar Euro mehr, und dann machen die das schon alles selbst. Das aber ist falsch. Die einmaligen Beihilfen müssen wieder eingeführt werden.

tagesschau.de: Warum sind denn konkrete Hilfen besser?

Hilgers: Ganz einfach: Ich kann mit meinem Wintermantel fünf Jahre gehen. Ein Kind aber braucht jedes Jahr einen neuen Winteranorak. Es braucht auch zwei oder drei Mal im Jahr neue Schuhe, weil die Füße gewachsen sind. Kinder haben nun einmal diese "Angewohnheit" zu wachsen! Zudem haben sie, da sie ja zur Schule gehen, auch mehr Schreibbedarf als Erwachsene. Eine Einschulung kostet heutzutage 150 Euro. Wie soll man die denn von 208 Euro ansparen? Ein weiterer Punkt ist das Mittagessen. In dem Regelsatz sind 2,57 Euro für Essen und Trinken am Tag eingerechnet. Wenn ein Kind in eine Ganztagsschule geht, kostet ja schon das Mittagessen 2,50 Euro. Und vom Frühstück haben wir dabei noch gar nicht gesprochen!

tagesschau.de: Könnte man da nicht einfach den Kinderzuschlag erhöhen?

Hilgers: Bei Familien mit geringem Einkommen ist in der Tat zusätzlich zum Kindergeld ein Kinderzuschlag notwendig. 225 Euro pro Kind wäre unseren Berechnungen nach angemessen. Das würde rund 700.000 Kinder in Deutschland betreffen, deren Eltern zwar Arbeit haben, aber so gering verdienen, dass sie ALG II als ergänzende Hilfe beantragen müssen. Aber bei den 1,9 Millionen Kindern, die von 208 Euro Hartz-IV-Anteil leben sollen, reicht es eben nicht, den Eltern einfach ein paar Euro mehr zu geben. Ganz abgesehen davon, dass es auch viele Problem- und Krisenfamilien gibt. Deshalb haben wir doch heutzutage wieder Kinder, die im Winter mit Sandalen in die Schule kommen, weil sie kein anderes Schuhwerk haben. Die einmaligen Beihilfen für Kleidung und Schulbedarf müssen gezielt übernommen werden.

tagesschau.de: Wie sollte das Ihrer Ansicht nach aussehen?

Hilgers: Die entstehenden Kosten müssten direkt aus dem Hartz IV-Topf an die Kindertagesstätten und Schulen überwiesen werden. Denn es gibt ja noch weitere Punkte. Zum Beispiel Klassenfahrten. Selbst wenn es einen Förderverein an der Schule gibt, der für die armen Kinder die Kosten übernimmt, dann wird das Kind wahrscheinlich trotzdem vor der Klassenfahrt krank. Es weiß nämlich genau: "Ich werde im Gegensatz zu den anderen kein Taschengeld dabei haben."

Arme Kinder haben im Bildungsprozess keine Chance

Außerdem brauchen wir mehr Ganztagskindergartenplätze, mehr Plätze für unter Dreijährige und mehr Ganztagsschulen - aber nicht nur aus Gründen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Gerade das Kind, das bei zwei arbeitslosen Eltern lebt, die dadurch antriebslos geworden und nicht mehr in der Lage sind, das Kind richtig zu fördern, braucht einen Platz in der Ganztagskrippe oder Ganztagesschule. Das ist notwendig, damit es am Nachmittag auch in einem anregungsreichen Umfeld weiterkommt und sich entwickeln kann. Dazu gehört auch, dass die Sportvereine und Musikschulen in diese Ganztagsbetreuung hineingehen. Denn das sind die Dinge, von denen arme Kinder ausgeschlossen sind. Ihre Eltern können sich das nicht leisten. Genau deshalb haben arme Kinder in dem ganzen Bildungsprozess keine Chance.Sie haben keine gleichberechtigte Teilnahme am sportlichen und kulturellen Leben und es wird in den Schulen benachteiligt, weil sie manchmal sogar ohne Frühstück zum Unterricht kommen.

tagesschau.de: Was also erwarten Sie, wenn Franz Müntefering von "konkreten Hilfen" spricht?

Hilgers: Ich hoffe, es ist so gemeint, dass die Bundesregierung wieder die einmaligen Beihilfen für Kleidung und Schulbedarf einführen will. Ich hoffe, es ist so gemeint, dass die Bundesregierung außerdem bereit ist, die Kosten für das Mittagessen in Ganztagsschulen und Ganztagskindergärten zu übernehmen. Und ich hoffe, es tritt zum 1.1.2008 in Kraft. Wissen Sie, der Kinderzuschlag wurde ursprünglich für den 1.1.2006 versprochen. Das ist das Schlimmste, was man machen kann: Wenn man armen Kindern etwas verspricht, und es dann nicht hält.

Das Gespräch führte Britta Scholtys, tagesschau.de