Lebensbedingungen 1951 und 2011 "Die Menschen müssen immer flexibler sein"
Das statistische Jahrbuch 2011 vergleicht die Lebensbedingungen heute mit denen vor 60 Jahren. Was hat sich verändert? Darüber sprach tagesschau.de mit dem Soziologen Werner Georg. Er sorgt sich um die wachsenden Anforderungen an die Menschen - hier habe es die meisten Veränderungen gegeben.
tagesschau.de: Beim Betrachten der Statistiken, hat sich unser Leben eher verbessert oder verschlechtert?
Werner Georg: Man kann faktisch feststellen, dass sich vieles verändert hat. In objektiven Kategorien hat sich das Einkommen verbessert, es hat Mobilitätsprozesse nach oben gegeben. Die Schichtunterschiede waren früher augenfälliger.Wir haben mittlerweile eine Gesellschaft, die sehr komplexe Ungleichheitsmuster aufweist. Wir nennen das Statusinkonsistenzen: Zum Beispiel den Taxifahrer Dr. Phil, der auf der einen Statusleiter ganz oben steht, auf der anderen relativ weit unten. Ich selbst bin während meiner Promotionszeit fünf Jahre Taxi gefahren und habe damals sechs Mark die Stunde verdient. Es gibt heute also komplexere Strukturen, die man nicht mehr mit den alten Klassen fassen kann.
tagesschau.de: Was ist ihrer Meinung nach die größte Verbesserung unserer Gesellschaft in den vergangenen 60 Jahren?
Georg: Das ist schwer zu sagen, weil es sehr individuell verschieden ist. Ich finde eine große Verbesserung den Zuwachs an Bildung. Die Bildungsexpansion seit den 1970er-Jahren hat dazu geführt, dass das durchschnittliche Bildungsniveau gestiegen ist und auch bildungsferne Schichten zunehmend höhere Bildungsabschlüsse erzielt haben. Das heißt freilich nicht, dass sich soziale Ungleichheit in diesem Bereich aufgelöst hat: Nach der PISA-2000 Studie sind bei gleichen Fähigkeiten die Chancen für einen Gymnasialbesuch bei dem Kind eines leitenden Angestellten immer noch drei Mal so hoch wie für das Kind eines Facharbeiters.
tagesschau.de: Den Bildungsanstieg bestätigt auch das statistische Jahrbuch. Worauf führen sie ihn zurück?
Georg: Man hat die Bildungsexpansion ursprünglich durchgeführt, um genügend qualifizierte Arbeitskräfte zu haben. Inzwischen ist es so, dass an die einzelnen Berufe immer höhere Anforderungen gestellt werden. Denken sie an einen Automechaniker früher, der hat einen Vergaser auseinander genommen und repariert. Heute gibt es Computer, mit denen man die Wagen analysiert – Mechatroniker bedienen diese inzwischen. Das sind sehr komplexe Arbeitsprozesse. Die Anforderungen an die Menschen sind gestiegen.
tagesschau.de: Welche Ergebnisse der Studie machen ihnen am meisten Sorge?
Georg: Am meisten Sorgen machen mir das Wegschmelzen der Mittelschichten, die Zunahme von Armut unter dem Einfluss der Globalisierung, die prekären Arbeitsverhältnisse, die durch Zeitarbeit geprägt sind. Wir gehen davon aus, dass nur noch etwa 70 Prozent der Menschen ‚normal‘ beschäftigt sind, der Rest befindet sich in fragilen Arbeitsverhältnissen. Das sind Tendenzen, die immer mehr Flexibilität von den Menschen fordern.
tagesschau.de: Andererseits sind auch die Bruttolöhne der Arbeitnehmer gestiegen: 140 Euro im Jahr 1951 zu 2365 Euro heute. Wie passen die positiven Zahlen zu ihren Beobachtungen?
Georg: Das Problem ist, dass der Durchschnittswert uns nicht mehr so viel sagt. Der Durchschnittswert sagt uns nur etwas, wenn wir das Einkommen verschiedener Einkommensgruppen betrachten. Aber natürlich haben wir eine riesige Wohlstandsexpansion erlebt. Es ist aber nicht so, dass alle im gleichen Maße profitiert haben.
Unsere Wohlstandsentwicklung hat letztlich zu mehr Konsum aber auch zu mehr Wahlmöglichkeiten geführt. Der Kollege Peter Gross hat unsere Gesellschaft die Multioptionsgesellschaft genannt, also man hat keine Wahl, außer zu wählen. Das Wählen selbst wird zu einem wichtigen Akt.
tagesschau.de: 1950 kamen zehn Prozent der geborenen Kinder unehelich zur Welt, heute sind das 33 Prozent. Führen sie das darauf zurück, dass die Familie und die Ehe heute nicht mehr so wichtig sind?
Georg: Früher waren uneheliche Kinder eine soziale Stigmatisierung, heute ist es gesellschaftlich akzeptiert. Wir wissen inzwischen, dass die Monopolstellung der Normalfamilie sich aufgelöst hat. Es gibt unterschiedliche Formen von Intimität. Etwa Living apart together, dass man also unter der Woche in unterschiedlichen Städten lebt und sich am Wochenende sieht. Es gibt WGs, Lebensgemeinschaften, Singles. Es hat sich eine Pluralität entwickelt, die der Gesellschaft entspricht. Die Menschen reagieren so auf die vielfältigen Anforderungen der Gesellschaft, um trotzdem noch Intimität zu erleben. Eine Normierung wie es sie in den 60er-Jahren gab, existiert heute nicht mehr.
Die Fragen stellte Florian Pretz für tagesschau.de