Streit über Corona-Bonds "Schritt in Richtung gemeinsame Schulden"
Wie kann von Corona besonders betroffenen EU-Staaten geholfen werden? Der Wirtschaftswissenschaftler Gunther Schnabl erläutert einen Vorschlag aus Deutschland - und welche Risiken er mit sich brächte.
tagesschau.de: Die Bundeskanzlerin deutete Anfang der Woche an, dass sich Deutschland an den milliardenschweren Corona-Hilfen für besonders betroffene EU-Länder mit "Recovery Fonds" beteiligen könnte. Demnach könne die EU-Ebene Schulden machen, und zwar über Anleihen. Angela Merkel beruft sich offenbar auf Artikel 122 der EU-Verträge für Nothilfen zum Beispiel bei Naturkatastrophen. Wie bewerten Sie dies grundsätzlich?
Gunther Schnabl: Die Europäische Union steht am Anfang einer tiefen Krise. Der Druck aus den südlichen Euroländern ist groß. Die EU soll in großem Umfang Schulden machen, um dort die kritische Lage zu stabilisieren. Mit dem "Recovery Fonds" scheint ein rechtlich gangbarer Weg gefunden, den hochverschuldeten Staaten im Süden der EU temporär und von der Summe begrenzt unter die Arme zu greifen. Damit scheint zumindest kurzfristig ein Kompromiss möglich, der zur Beruhigung der Lage beitragen könnte.
tagesschau.de: Das Ganze funktioniert so: Deutschland könnte als Mitgliedstaat Garantien geben. Damit könnte die EU-Kommission am Kapitalmarkt Schulden aufnehmen. Die Garantien, die Staaten wie Deutschland geben würden, wären "teilschuldnerisch". Das würde heißen: Wir haften nicht für die Gesamtsumme, sondern nur für einen Teil. Ist das im Sinne des Verfassungsgerichts?
Schnabl: Wichtig ist, dass Deutschland nicht für die Schulden anderer Länder haftet und das deutsche Parlament zustimmt. Allerdings ist die genaue rechtliche Ausgestaltung der "Recovery Fonds" noch unklar. Klar ist hingegen, dass ein weiterer Schritt in Richtung gemeinsamer Schulden und Transferunion gegangen wird. Über die Verfassungsmäßgikeit kann nur das Gericht entscheiden.
tagesschau.de: Die Lösung nach Merkels Idee wären demnach keine Coronabonds. Denn dabei hätte Deutschland die gesamtschuldnerische Haftung. Doch in welcher Höhe sollte Deutschland jetzt Garantien übernehmen? Nach dem Anteil Deutschlands bei der Wirtschaftskraft?
Schnabl: Das ist naheliegend. Der Anteil Deutschlands an der Wirtschaftskraft der EU lag 2019 bei ca. 20 Prozent. Mit dem Ausstieg des Vereinigten Königreichs dürfte sich der Anteil im Jahr 2020 auf ca. 25 Prozent erhöhen. Wichtig ist auch, wie hoch die Summe sein wird. Sind es 30, 500, 1000 oder sogar 1500 Milliarden? Auch die Verwendung muss geklärt sein. Werden die medizinischen Folgen der Krise bewältigt oder auch die fragilen italienischen Banken gestützt?
tagesschau.de: Sollten die Milliarden Ihrer Ansicht nach als Kredite vergeben werden? Oder sollten die Gelder nicht zurückverlangt und als so genannte "Zuweisungen" gezahlt werden?
Schnabl: Mittel, die zur Bewältigung der medizinischen Folgen der Krise vorgesehen sind, sollten aus meiner Sicht als Zuweisung erfolgen. Wenn Hilfsmittel wie üblich als Kredite vergeben werden, wird sich der Schuldenstand in Südeuropa, der in einigen Ländern bereits kritisch hoch ist, weiter erhöhen. Früher oder später dürfte eine Diskussion einsetzen, ob die Verschuldung in den südlichen Euroländern noch tragbar ist. Für Griechenland gab es bereits einmal einen Schuldenschnitt.
tagesschau.de: Die Grünen wollen die Zurückzahlung ans Wirtschaftswachstum von Italien und Co. koppeln. Wie bewerten Sie diesen Vorschlag?
Schnabl: Eine solche Ausgestaltung von Schuldendienst ist mir bisher nicht bekannt. Sie könnte als Signal gesehen werden, dass eine Rückzahlung durch die südlichen EU-Mitgliedsstaaten als unrealistisch angesehen wird. Das würde die Risikoprämien auf die Staatsleihen dieser Länder weiter nach oben treiben.
tagesschau.de: Italien fordert Coronabonds. In den Verhandlungen auf EU-Ebene geht es jetzt um Gesichtswahrung - offenbar gedrängt von Rechtspopulisten. Müssten Länder wie Deutschland oder die Niederlande Italien entgegenkommen, um Zulauf für Matteo Salvini und andere zu verhindern?
Schnabl: Die Lage in Italien ist schwierig. Das Land ist bereits hochverschuldet in die Europäische Währungsunion eingetreten und hat es seither versäumt - trotz äußerst günstiger Zinsen und umfangreicher Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank -, die Staatsverschuldung zu reduzieren.
Es gibt in Italien große Vermögen, die belastet werden könnten. Es ist jedoch politisch einfacher, mit Verweis auf Solidarität den Norden in die Pflicht zu nehmen. Die Milliarden aus dem Norden könnten kurzfristig zur Beruhigung der politischen Lage beitragen. Das Problem wäre aber langfristig nicht gelöst. Italien könnte Appetit nach noch mehr Hilfsgeldern bekommen.
tagesschau.de: Wer bezahlt eigentlich die vielen Hilfsmilliarden, die jetzt als Schulden aufgenommen werden sollen?
Schnabl: Das ist schwer zu sagen. Seit Ausbruch der europäischen Finanz- und Schuldenkrise ist ein Dickicht von europäischen Rettungsmechanismen entstanden, dessen Umfang immens, aber auch für Experten schwer zu überblicken ist. Zudem hat die Europäische Zentralbank seit 2010 in großem Umfang Staatsanleihen von Eurostaaten gekauft und Kredite vergeben.
Nun wurde mit Verweis auf die Pandemie eine drastische Ausweitung dieser Programme angekündigt. Jeder Euro, der zusätzlich im Süden ausgegeben wird, wird im Norden fehlen. Da sich mit der tiefen Krise auch die wirtschaftliche Perspektive vieler Menschen im Norden der EU eintrüben wird, könnte eine wiederauflebende Diskussion um die Transferunion bald dort Populisten stärken. Im östlichen Teil der EU sind die Pro-Kopf-Einkommen deutlich niedriger als in Südeuropa.
Ich habe Zweifel, dass immense, teils Zentralbank-finanzierte Rettungspakete eine nachhaltige Lösung sind. Sie könnten die Vorstufe für noch größere Turbulenzen und Konflikte sein.
Das Gespräch führte Michael Stempfle, ARD-Hauptstadtstudio.