Politologe über Kanzlerin Merkel Regieren wie Macron?
Eine vorab gestreute Beschlussvorlage und verärgerte Ministerpräsidenten: Der Politologe Neugebauer sieht in Merkels Corona-Politik eine Neigung zum Zentralismus à la Frankreich. Doch Entscheidungen müssten nachvollziehbar sein.
tagesschau.de: Kanzlerin Merkel ist nach der jüngsten Länderrunde erkennbar unzufrieden - und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten sind teilweise stark verärgert: Was ist da in der Kommunikation schief gegangen?
Gero Neugebauer: Dass die Beschlussvorlage vorher in der Öffentlichkeit auftauchte, deutet darauf hin, dass das Kanzleramt hier Druck ausüben wollte. Und dass damit die Ministerpräsidenten gezwungen waren, darauf zu reagieren. Das heißt, einen bestimmten Prozess der offenen Diskussion und Meinungsbildung erst mal auszuschließen.
tagesschau.de: Von den Vorschlägen aus dem Kanzleramt blieb nicht viel übrig. War das klug, kommunikativ mit der großen Riege der Länderchefs so umzugehen?
Neugebauer: Es ist Teil einer Veränderung, die wir in diesem Jahr beobachten: nämlich eine stärkere Zentralisierung durchzusetzen. Ich habe den leisen Verdacht, dass das mit der Auffassung Merkels übereinstimmt, die gern näher am Modell des französischen Staatspräsidenten reagieren würde.
Wir können seit dem Frühjahr feststellen, dass es eine allgemeine Zustimmung zu der These gibt, dass die Krise die Zeit der Exekutive ist und dass die Parlamente in den Hintergrund treten müssen. Das hat dazu geführt, dass Parlamente, insbesondere die Opposition, aus dem Diskussionsprozess ausgeschaltet waren.
tagesschau.de: In den vergangenen Wochen hat sich Kanzlerin Merkel mit Regierungserklärungen und darauf folgenden Aussprachen dem Bundestag gleich zweimal in kurzer Folge gestellt. Zumindest, nachdem sie mit den Ministerpräsidenten Maßnahmen beschlossen hatte.
Neugebauer: Merkel hat sicher in der Krise dazugelernt. Sie setzt zudem stärker Podcasts ein, um ihre Meinung kundzutun. Und sie hat auch an Zustimmung gewonnen, begünstigt durch die Situation, dass sie deutlich macht, eine Verantwortung gegenüber der gesamten Gesellschaft zu haben. Das zeigt sich auch an ihren Umfragewerten über ihre Leistung, die derzeit sehr hoch sind.
tagesschau.de: Nehmen Sie Merkel die Rolle der ungeduldig Mahnenden ab, die sachlich auf die wachsenden Zahlen und die damit verbundenen Risiken blickt?
Neugebauer: Politisches Handeln ist immer interessengeleitet. Das Interesse Merkels ist hier, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Das entspricht auch Merkels Verpflichtung im Amt. Eine Frage bleibt für mich offen: Ob die Kanzlerin den Menschen Angst machen oder an deren Eigenverantwortung appellieren will, wenn sie von der Bedrohung spricht.
Wissenschaft produziert immer neue Erkenntnisse. Da kann innerhalb kurzer Zeit eine bis dahin bestehende Gewissheit zur Ungewissheit werden und neue Informationen meinungsbildend wirken. Politik kann sich umgekehrt diese Unentschiedenheit aber nicht leisten, sie muss längerfristig begründbare Entscheidungen treffen.
"Politik muss sich fragen, ob Corona-Regeln durchsetzbar sind"
tagesschau.de: Steckt die Politik in der Corona-Krise dadurch in einem Entscheidungsdilemma?
Neugebauer: Das ist in jedem Fall schwierig für die Politik. Zudem muss sie sich fragen, ob diese durchsetzbar sind und überhaupt Akzeptanz finden. Sie muss glaubwürdig und nachvollziehbar sein. Derzeit ist hier aber noch eine Nähe zwischen Politik und Gesellschaft erkennbar, wenn laut Umfragen mehr als drei Viertel der Menschen die Maßnahmen unterstützen.
tagesschau.de: In den Sozialen Medien, in denen die Gegner von Corona-Maßnahmen stark auftreten, hat man nicht immer den Eindruck.
Neugebauer: Es ist wichtig, dass eine breite Diskussion stattfindet - auch dort. Aber es ist eine Diskussion auf unterschiedlichem Informationsstand zwischen Politikern und Bürgern mit teilweise gegensätzlichen Interessen. Natürlich schwächt das die Rolle des Bundestags als Brücke zwischen Regierung und Gesellschaft.
tagesschau.de: Der Legitimationsdruck auf die Corona-Politik scheint größer zu werden. Erklären sich die Handelnden zu wenig?
Neugebauer: Dieser Druck wird in der Tat größer, weil der Eingriff in die Lebensverhältnisse der Bürger stärker wird. Ich denke, dass es für die meisten ausreicht, wie die Corona-Krise seitens der Politik beschrieben wird. Nicht deutlich genug wird, dass die Politik seit Frühjahr auch Fehler gemacht hat.
tagesschau.de: Können die Meinungsunterschiede zwischen den Ländern, aber auch gerade zwischen Merkel und den Ministerpräsidenten da nicht sogar hilfreich sein - im Sinne einer transparenten öffentlichen Debatte, eines Ringens um die richtigen Maßnahmen?
Neugebauer: Dass darüber gestritten wird, ist Zeichen einer lebendigen Demokratie. Und auch völlig legitim, solange das auf Basis derselben Informationen passiert.
tagesschau.de: Wenn ein Ministerpräsident wie Bodo Ramelow nun Richtung Merkel sagt, die Länderregierungen seien nicht eine Dienststelle des Kanzleramtes, schwächt das die Position der Länder nicht noch weiter in der Öffentlichkeit?
Neugebauer: Das zeigt, dass der Föderalismus lebendig ist und eine Voraussetzung dafür, dass die vielfältigen Interessen der Regionen unterschiedlich berücksichtigt werden. Ramelow hat recht, wenn er darauf hinweist, dass der Föderalismus bei aller Akzeptanz der Notwendigkeit zentraler Regelungen nicht unterhöhlt werden darf.
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de.