Debatte um digitale Wahlen "Digitale Wahlen möglich machen"
Ein modernisiertes Parteiengesetz ermöglicht digitale Wahlen, sagt Grünen-Geschäftsführer Kellner im Interview mit tagesschau.de. Dafür brauche es keine Grundgesetzänderung. Bis zu digitalen Bundestagswahlen sei es aber ein weiter Weg.
tagesschau.de: Herr Kellner, Sie organisieren gerade wieder einen digitalen Parteitag der Grünen. Es ist schon der zweite seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Wie verändern digitale Parteitage die Debattenkultur?
Michael Kellner: Die Debatten werden konzentrierter und ruhiger. Sie werden mehr auf Argumente fokussiert, gleichzeitig fehlt natürlich die Emotionalität im Raum.
tagesschau.de: Ist das ein Nachteil?
Kellner: Es ist anders. Natürlich ist es für einen selber als Redner schwierig, ohne Publikum zu sprechen. Es fehlt die direkte Rückmeldung. Statt einer mitreißenden Rede kommt es mehr auf Argumente und Fakten an. Das ist natürlich auch eine Stärke.
Michael Kellner ist seit 2013 Politischer Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen. Er reformierte unter anderem Beteiligungsprozesse innerhalb der Partei und führte neue, digitale Beteiligungsformate, wie die Mitgliederbefragungen, ein.
"Weil wir im 21. Jahrhundert sind"
tagesschau.de: Die Grünen treten schon länger dafür ein, das Parteiengesetz zu modernisieren. Warum wollen Sie demokratische Prozesse digitalisieren?
Kellner: Weil wir im 21. Jahrhundert sind und Digitalisierung uns neue Möglichkeiten der Beteiligung eröffnet. Mitgliederbefragungen beispielsweise machen wir als Partei heute regelmäßig digital. Früher hätte ich dafür 100.000 Briefe rausschicken und per Hand auswerten müssen - das hätte ewig gedauert. Ich kann theoretisch auch Urabstimmungen oder Urwahlen digital durchführen und damit eine größere Wahlbeteiligung erreichen. Um demokratische Prozesse ans digitale Zeitalter anzupassen, braucht es aber zwingend eine gründliche Überarbeitung des Parteiengesetzes. Und das ist leider bis heute nicht erfolgt, obwohl wir seit langem darauf hinarbeiten.
Anfang Mai hielten die Grünen einen rein digitalen Parteitag ab.
tagesschau.de: Mit Corona hat das Thema an Fahrt aufgenommen. Aktuell hat vor allem die CDU das Problem, dass sie einen neuen Vorsitzenden wählen muss, das aber derzeit nicht physisch auf einem Parteitag machen können. Für eine komplett digitale Wahl aber fehlt die rechtliche Grundlage...
Kellner: Es ist schon absurd, dass die CDU jetzt beim CSU-Innenminister Auskunft darüber erbittet, wie eigentlich die Rechtslage ist. Die Union stellt zusammen mit der SPD die Große Koalition, zusammen verfügen sie über eine parlamentarische Mehrheit im Bundestag. Schwarz-Rot hat es versäumt, eine saubere Rechtsgrundlage im Parteiengesetz zu schaffen für diesen Fall. Das fällt ihnen nun womöglich auf die Füße.
Grundgesetzänderung nicht nötig
tagesschau.de: CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat sogar eine Änderung des Grundgesetzes ins Gespräch gebracht, um digitale Wahlen rechtssicher zu machen. Die Grünen wollen hier nicht mitgehen. Warum nicht?
Kellner: Eine Grundgesetzänderung ist dafür nicht notwendig. Die Parteien haben laut unserem Grundgesetz eine große Autonomie. Das heißt, man kann dafür eine saubere Lösung im Parteiengesetz hinbekommen.
tagesschau.de: Und wie könnte die aussehen?
Kellner: Eine Möglichkeit wäre, im Parteiengesetz festzuhalten, dass digitale Wahlen grundsätzlich möglich sind und dort die Anforderungen zu definieren. Dann hat man hinterher noch die Möglichkeit einer Bestätigungswahl per Briefwahl oder man macht es rein digital.
Software auf Open-Source-Basis
tagesschau.de: Aber wie soll gewährleistet werden, dass digitale Wahlen den Grundsätzen der freien, geheimen und gleichen Wahl entsprechen?
Kellner: Indem man entsprechende Software auf Open-Source-Basis entwickelt. Doch dieses Problem haben ja nicht nur Parteien, sondern auch Vereine. Bisher gibt es vor allem technische Lösungen, die sehr teuer sind und nicht Open Source - wo also nicht nachvollziehbar ist, wie sie programmiert sind.
Deshalb habe ich schon im Mai eine gemeinnützige Stiftung für digitale Wahlverfahren vorgeschlagen, die Open Source-Lösungen erarbeitet und für gemeinnützige Vereine und Parteien zur Verfügung stellt. Das könnte zum Beispiel die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt übernehmen. So würde eine grundlegende Infrastruktur im 21. Jahrhundert für unser Gemeinwesen geschaffen. Und klar ist auch immer: Das soll ja nur ermöglichen, digital zu wählen, und nicht verpflichten. Am Ende soll jede Partei und jeder Verein selber entscheiden, wie die Wahlen ablaufen sollen.
Digitale Bundestagswahl? Eher nicht
tagesschau.de: Kürzlich haben Sie sich erneut mit den Generalsekretären der anderen Parteien zum Thema Reform des Parteiengesetzes getroffen. Was kam dabei raus?
Kellner: Wenig. Die Abgeordneten als Gesetzgeber warten auf das Innenministerium. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es einfach ulkig. Insgesamt habe ich aber eine Aufgeschlossenheit für digitale Wahlen wahrgenommen. Ich hoffe sehr, dass wir bei dem Thema endlich vorankommen.
tagesschau.de: Wann wird die erste Bundestagswahl digital stattfinden?
Kellner: Das sehe ich erstmal nicht. Die Bundestagswahl ist vermutlich das letzte, was digitalisiert wird. Es ist wichtig, dass wir jetzt Erfahrungen sammeln, Sachen ausprobieren, Rechtssicherheit schaffen und Lösungen für die technischen Probleme finden. Nur so wird es uns gelingen, unsere Parteien fit für das digitale Zeitalter machen.
Das Interview führte Kristin Joachim, ARD-Hauptstadtstudio