Interview zur Intersexualität "Genitaloperationen müssen verboten werden"
Es gibt Menschen, die sind weder Mann noch Frau, sondern intersexuell. Sie haben sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale. Wenn Kinder so auf die Welt kommen, hat man sie bisher meist operiert, um ein Geschlecht festzulegen. "Diese Verstümmelung muss aufhören", sagt Lucie Veith im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Sie haben in ihrer Beratungstätigkeit mit Menschen zu tun, deren Geschlecht nicht eindeutig ist...
Lucie Veith: Da muss ich Ihnen gleich widersprechen. Jeder Mensch kommt mit einem Geschlecht auf die Welt und das ist sein eigenes. Die Menschen, die ich berate, wurden früher als Zwitter, Hermaphroditen oder als intersexuelle Menschen bezeichnet. Das sind Menschen, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Standard zuzuordnen sind.
"Welche Identität ich habe, entwickelt sich erst über Jahre."
tagesschau.de: Wie bezeichnen sich diese Menschen denn selbst?
Veith: Als Menschen. Geschlecht ist ja eine ganz spannende und vielschichtige Sache. Wir haben ein äußeres, ein inneres, ein chromosomales, ein hormonelles, ein soziales Geschlecht. Aber was ich wirklich bin und welche Identität ich habe, das entwickelt sich erst über die Jahre. Als intersexueller Mensch ist man nicht einfach Mann oder Frau. Aber es gibt natürlich solche, die sich als Mann oder Frau sehen.
tagesschau.de: Wie viele intersexuelle Menschen gibt es in Deutschland?
Veith: Es gibt keine gesicherten Zahlen darüber. Eine Schätzung auf Grundlage von wissenschaftlichen Arbeiten geht von 80.000 bis 120.000 intersexuellen Menschen in Deutschland aus. Das ist aber keine homogene Gruppe, sondern eine Vielzahl von Besonderheiten. Wir kennen 4000 Varianten von geschlechtlicher Differenzierung.
Lucie Veith ist Vorsitzende des Vereins "Intersexuelle Menschen". Bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit berät sie intersexuelle Menschen und deren Eltern. Außerdem ist sie UN-Berichterstatterin u.a. zum UN-Frauenrechtsabkommen. Ihr Verein wendet sich gegen jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.
"Man hat die Eltern bedrängt, das Kind operieren zu lassen."
tagesschau.de: Was genau heißt das, intersexuell zu sein? Können Sie Beispiele schildern?
Veith: In einem Fall aus meiner Beratungstätigkeit haben sich Eltern an mich gewandt, die scheinbar ein Mädchen geboren haben. Später wurde bemerkt, dass dieses Kind Hoden hat. Und nach weiteren Untersuchungen kam heraus, dass es ein X und ein Y-Chromosom hat, also chromosomal männlich ist. Dann wurde den Eltern empfohlen, die Hoden entfernen zu lassen, weil die angeblich nicht in einen weiblichen Körper gehörten. Das ist natürlich Blödsinn. Dieses Kind war vollkommen gesund und man hätte die Hoden einfach unter die Haut legen können. Stattdessen hat man die Eltern sehr bedrängt. Sie haben sich dennoch gegen eine Operation entschieden. Aber das ist die absolute Ausnahme.
In einem anderen Fall habe ich lange eine Klientin betreut, die offenbar ein Mann war. Aber er hatte zwei X-Chromosomen, also eigentlich das Zeichen für eine Frau. Weil das Kind eine vergrößerte Klitoris hatte, hat man es mit männlichen Hormonen beschossen, so dass sich der Körper eher männlich ausgebildet hat.
"Das ist irreversibel. Was weg ist, ist weg."
tagesschau.de: Wie ging man bisher medizinisch damit um, wenn ein Kind intersexuell auf die Welt kam?
Veith: Bis in die 2000er Jahre wurden mehr als 90 Prozent dieser Menschen an die Norm männlich oder weiblich angepasst, also verstümmelt. Man entfernt alles, was scheinbar nicht zum Körper des Kindes gehört - und zwar äußere oder innere Geschlechtsteile. Oder sie werden so designt, dass sie möglichst der Norm entsprechen. Bei diesen Operationen ist sehr viel schief gegangen. Und man muss wissen: Alles, was da passiert, ist irreversibel. Was weg ist, ist weg. Seit dem Jahr 2005 ist man immerhin etwas vorsichtiger.
tagesschau.de: Mit welchen Problemen haben diese Menschen nach einer OP zu kämpfen?
Veith: Viele haben durch diese Verstümmelungen ihr Geschlecht verloren, ihre Identität. Man muss sich das mal vorstellen: Man wird mit einem Körper geboren und dieser Körper wird dann zurecht geschnitten, es werden körperfremde Hormone zugeführt. Viele Menschen berichten darüber, dass sie ihre Sensibilität - gerade im Genitalbereich - teilweise oder komplett verloren haben. Viele sagen, dass sie Probleme haben, sich selbst anzunehmen, weil dieser konstruierte Körper nicht zu ihrer geschlechtlichen Identität passt. Das verursacht sehr viel Leid und das alles nur, damit die Gesellschaft an dem Modell der Zweigeschlechtlichkeit festhalten kann.
tagesschau.de: Warum ist diese Zweigeschlechtlichkeit so wichtig für die Gesellschaft?
Veith: Das liegt vor allem an unserer Tradition. Es gibt eine kulturelle Vorstellung, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Aber das ist eine Fehlinformation. Das Wissen, dass es völlig natürlich ist, verschiedene Geschlechtsmerkmale zu haben, fehlt. Aber es hat schon immer Zwitter und Hermaphroditen gegeben.
"Ich hätte mir ein Verbot für Genitaloperationen gewünscht."
tagesschau.de: Wie gehen die damit um, die keinen operativen Eingriff hatten?
Veith: Da gibt es ganz wenige. Aber die, die es gibt, sind ja völlig gesund. Natürlich haben die auch ihre Probleme, weil es keine Lebensbeispiele in Deutschland für so etwas gibt. Aber sobald sie in Gruppen kommen, in denen sie einfach sein können, wie sie sind, geht es ihnen sehr gut damit.
tagesschau.de: Halten Sie die Empfehlungen des Deutschen Ethikrats für ausreichend?
Veith: Es ist ein guter Anfang, weil das Leid anerkannt wird, das bei intersexuellen Menschen ausgelöst wird. Und weil verstanden wird, dass niemand die Verfügung über ein Geschlecht hat. Die Menschenrechte des Einzelnen werden darin anerkannt. Die Empfehlungen sind aber nicht ausreichend, weil sie keinen echten Schutz bieten. Ich hätte mir ein Verbot für Genitaloperationen gewünscht. Bis zu dem Alter, in dem Kinder das selbst entscheiden können. Also auf jeden Fall nach der Pubertät. Denn das, was da passiert, ist keinen Deut besser als die Genitalbeschneidung in Afrika. Wenn ein medizinischer Notfall besteht, sieht die Sache natürlich anders aus.
"Die Eintragung weiblich oder männlich sollte abgeschafft werden."
tagesschau.de: Was müsste sich denn gesellschaftlich verändern?
Veith: Wenn wir einen diskriminierungsfreien Raum schaffen würden, dann gäbe es keinen Grund mehr für diese Verstümmelungen. Intersexuelle Menschen müssen gleichberechtigt sein, das gleiche Selbstbestimmungsrecht haben. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ist laut Grundgesetz verboten. Erreichen kann man das nur durch Aufklärung und staatlichen Schutz für diese Minderheit. Zum Beispiel, indem man die erzwungene Eintragung als männlich oder weiblich im Personenstandsregister abschafft. Ein anderes Beispiel: Ein Teil des Ethikrats empfiehlt nur die eingetragene Lebenspartnerschaft für intersexuelle Menschen...
tagesschau.de: ... der andere Teil will auch die Möglichkeit der Eheschließung.
Veith: Ja. Aber würden Sie denn ihr Kind als intersexuell eintragen lassen, wenn sie wüssten, dass das Kind dann eine Sonderstellung in der Gesellschaft hat? Oder was ist mit einem intersexuellen Menschen, der womöglich schon seit 30 Jahren in einer Ehe lebt, weil er sich mit einem Geschlecht arrangiert hat. Soll der dann seine Ehe annullieren?
Die Fragen stellte Sandra Stalinski, tagesschau.de.