Der Wissenschaftler: Migrationsforscher Bade Wie beide Seiten profitieren könnten
Überforderung, historische Ausnahmesituation - vieles übertrieben, meint Migrationsforscher Bade. Zuwanderung habe es immer gegeben. Nicht nur Flüchtlinge könnten profitieren, sondern auch Deutschland - wenn es Skepsis ablegt und bessere politische Konzepte vorhält, sagt Bade im tagesschau.de-Interview.
tagesschau.de: Flucht und Vertreibung als Folgen des 2. Weltkriegs, Gastarbeiter der 1960er-Jahre, Balkanflüchtlinge in den 90ern: Deutschland stand bereits mehrfach vor der Herausforderung, Menschen zu integrieren. Können wir aus der Vergangenheit lernen?
Klaus J. Bade: In der Vergangenheit hat es häufig geheißen: Das kann alles nicht klappen. Das war bei den Vertriebenen nach 1945 so, das war bei den Spätaussiedlern so, das war bei den sogenannten Gastarbeitern und ihren Nachfahren so. Immer war die Vorstellung, dass das eine Überforderung und eine historische Ausnahmesituation sei. Aber wer die Geschichte kennt, der weiß, dass die Bewegung von Menschen über Grenzen, aber auch von Grenzen über Menschen zu den Regelsystemen historischer Erfahrungen gehört.
Auch die Situation aktuell ist keine Ausnahme. Neu ist, dass es Menschen sind, die als Vertriebene und Flüchtlinge durch das Asylnadelöhr ins Land kommen, weil Deutschland viel zu wenige legale Wege geschaffen hat. Dabei brauchen wir Zuwanderer und nicht nur Hochqualifizierte. Die Positivliste, nach der Arbeitgeber Migranten ins Land holen dürfen, zeigt, in Wirklichkeit werden eher Facharbeiter und Azubis gesucht als Akademiker. Das heißt, wir haben einen größeren Bedarf, als wir uns eingestehen wollen, aber wir haben zu wenig legale Zuwanderungswege.
Prof. Dr. Klaus J. Bade ist Migrationsforscher, Publizist und Politikberater. Er lehrte bis 2007 Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und lebt seither in Berlin.
Er war Begründer des Osnabrücker Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, des bundesweiten Rates für Migration und Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Für sein Engagement hat er diverse Auszeichnungen erhalten, u.a. das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse.
Zuwanderungsgesetz war Zuwanderungsverhinderungsgesetz
tagesschau.de: Hätten wir weniger Probleme, wenn wir frühzeitig ein umfassendes Einwanderungsgesetz gehabt hätten?
Bade: Aber selbstverständlich. Wenn man den ersten Entwurf des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes von 2001 nähme und um die zeitbedingten Vorstellungen bereinigte, dann hätte man ein Grundgerüst für ein solches Gesetz gehabt.
Das Zuwanderungsgesetz von 2005 war durch die vielen Verschlimmbesserungen der konservativen Kräfte ein Zuwanderungsverhinderungsgesetz. Das Gesetz musste dann mühevoll zurechtgebastelt werden. Da waren Vorstellungen dabei, dass Zuwanderer, die in abhängige Arbeitsverhältnisse gehen wollten, ein Grundgehalt von mehr als 80.000 Euro brutto pro Jahr nachweisen mussten. Das war völlig absurd, zumal dabei vor allem an frisch qualifizierte Hochschulabsolventen gedacht war. So ein Gehalt bekam damals nicht mal ein C4-Professor. Selbstständige, die kommen wollten, sollten eine Million investieren und zehn Arbeitsplätze schaffen, um ins Land kommen zu können.
Auch das Potenzial von Analphabeten nutzen
tagesschau.de: Was wäre heute wichtig bei der Gesetzgebung?
Bade: Es ist deutlich besser geworden. Wir sind ein Land, dem auch die OECD bescheinigt, besonders offen für Zuwanderer zu sein. Aber es ist immer noch nicht genug. Wir stehen unter demografischem Druck, die Wirtschaft wird bitter Not leiden, wenn es nicht zureichende Impulse vom Arbeitsmarkt gibt. In wenigen Jahren schon wird sich das auch auf die Wirtschaftsleistung auswirken. Dann werden wir mit Stellen nach Menschen werfen. Wir könnten die aktuelle Chance nützen, müssen aber die Strukturen dafür schaffen.
Aber nur ein geringer Teil der Flüchtlinge ist unmittelbar am Arbeitsmarkt einsetzbar. Es sind nicht nur Fachärzte, die aus Syrien zuwandern, sondern auch viele Leute ohne eine hier passfähige berufliche Qualifikation. Und es kommen auch Analphabeten. Wir müssen eine Statistik entwickeln, um aufzuschlüsseln, wen wir vor uns haben. Nicht einmal das gibt es bislang. Und wir dürfen Analphabeten nicht ausschließen, die in ihrem Herkunftsland ein kleines Gewerbe mit Erfolg betrieben haben. Das sind Menschen, die Potenzial, Leistungsbereitschaft und unternehmerische Initiative besitzen. Wir müssen ihnen aber die Hand reichen und alte Strukturen umbauen. Das haben wir bislang verschlafen. Jetzt gibt es diesen Rammstoß von außen, der uns vielleicht wachrüttelt.
In Deutschland Tellerwäscher, in den USA erfolgreicher Arzt
tagesschau.de: Gibt es eine Vorbild-Nation, an der sich Deutschland orientieren kann?
Bade: In der Vergangenheit hat es in Kanada immer wieder fließende Grenzen zwischen Asylsuchenden und Einwanderern gegeben. Wurden Arbeitskräfte benötigt, konnten auch von den Asylsuchenden entsprechende Kräfte übernommen werden. In Zusammenarbeit mit den Medien hat man die Bevölkerung aufgeklärt, nach dem Motto: "Regt euch nicht auf, es dient uns allen. Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, diese Flüchtlinge als Einwanderer zu akzeptieren."
Die Amerikaner haben Anfang der 1990er-Jahre eine Kosovo-Quote für Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien eingeführt. Ich kann mich noch sehr gut an einen Fall erinnern, bei dem ich einen Anästhesisten aus Sarajevo herausholen wollte. Der Mann war zuckerkrank und hatte kaum mehr als eine Wanne voll Wasser und Brot. Eine Katastrophe für einen Diabetiker. Es gab nur die Möglichkeit, diesen Mann als englischen Journalisten auszufliegen. In Deutschland weigerte er sich, einen Asylantrag gegen sein eigenes Land zu stellen. Als Tellerwäscher arbeitete er bei einem Pizzabäcker, bis die amerikanische Quote kam und die USA ihn mit seiner Familie in ihr Land holten. Er ist heute ein erfolgreicher Arzt in Florida, nachdem er einige Examina nachgeholt hat. Das ist eine amerikanische Flüchtlingskarriere. Wir in Deutschland hätten gesagt: "Sie sind Flüchtling, gehen Sie zurück, wir können nichts für Sie tun."
"Warum um Himmels Willen schicken wir den Menschen weg?"
tagesschau.de: Wie können wir eine Wiederholung dieser Fehler verhindern?
Bade: Man muss im aufgeklärten Eigeninteresse darüber nachdenken, ob man nicht die humanitäre Pflicht und das ökonomische Interesse verbinden kann, ohne die humanitäre Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen zu beschädigen. Es geht nicht, sich von einem Dampfer herunterzubeugen und ausschließlich die Diplomingenieure aus dem Flüchtlingsboot herauszufischen. Es geht auch nicht, in einer Erstaufnahmeeinrichtung die Qualifizierten zu selektieren. Das wäre der falsche Weg. Wir müssen beachten, dass unser Grundgesetz sagt: Wer Asyl sucht, der hat keine Garantie auf Asyl, aber ein Anrecht auf die individuelle Prüfung seines Anliegens. Wenn die Prüfung negativ ausgeht und wir dann feststellen: Er hat kein Anrecht auf Asyl, aber wir benötigen seine Arbeitskraft. Warum um Himmels Willen schicken wir ihn oder sie dann weg?
"In defensive Verweigerung geflüchtet"
tagesschau.de: Weshalb tut sich Deutschland so schwer mit Einwanderung?
Bade: Die Bundesrepublik hat sich über Jahrzehnte in defensive Erkenntnisverweigerung geflüchtet. Selbst in den 1990er-Jahren haben viele Menschen immer noch Zuwanderung ausschließlich als Bedrohung von außen und Integration als Risiko des Inneren gefürchtet. Da wird es natürlich schwer, die Bevölkerung nun von einer "Win-win-Situation" zu überzeugen. Der Großteil der Bevölkerung hat das dennoch verstanden - trotz der Blamage, die sich die Politik in Sachen Migration in den vergangenen Jahren geleistet hat.
Ein Großteil ist dafür, dass geeignete Zuwanderer ins Land kommen und sieht das durchaus positiv. Aber es steigt die Skepsis angesichts der Menge von Flüchtlingen. Frau Merkels Reaktion des "Wir schaffen das" war durchaus vernünftig, sonst hätte sich eine menschliche Katastrophe ereignet. Der Ausnahme-Charakter dieser Entscheidung hätte aber deutlicher werden müssen. Nun ist eine Eigendynamik entstanden, die in der Bevölkerung Angst macht. Und es fehlen die transparenten, verständlichen Konzepte, wie wir unter dem Druck des demografischen Wandels die Zukunft gestalten wollen.
Das Interview führte Judith Pape, tagesschau.de