RKI-Chef Wieler Der Unbequeme geht
Er hat gemahnt, gewarnt, gefleht. Seine Auftritte machten meist schlechte Laune. Lothar Wieler hat sich an seinen Dienstherren Spahn und Lauterbach gerieben und am Ende wohl auch aufgerieben. Nun verlässt er das RKI.
"Ich bin schon lange der Papagei." Es muss sich viel Frust angestaut haben an diesem Freitag im November 2021. Lothar Wieler, der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI), macht sich Luft. Nur kurz - dann wieder Contenance. Wie an den vielen Freitagen zuvor, die er im blauen Jackett vor der blauen Wand in der Bundespressekonferenz verbracht hat. Mit unbewegter Miene und als Sidekick des Bundesgesundheitsministers. Warnen, mahnen, selten trösten. Maske auf, Hände waschen, isolieren, impfen lassen - Wielers Mantra in Wiederholungsschleife.
Die Lage bleibt schwierig. Müde sieht er aus. Corona macht selbst einen Rheinländer ernst. Und mürbe. Viele Monate traktiert das tückische Virus nun schon Deutschland und die Welt. Die vierte Welle kündigt sich an. Den Mann, der der Regierung Daten, Fakten und Empfehlungen zur Bekämpfung der Pandemie liefern soll, quält der Gedanke, dass "auch nur ein einziges Kind sterben muss". Wieler will das verhindern.
Sein kurzer verbaler Ausflug in die Welt der Papageien drückt Wut aus. Sie richtet sich nicht gegen die Bürger. Wielers Wut zielt auf die Politverantwortlichen, die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, die dem strengen Kurs der RKI-Wissenschaftler nicht mehr folgen wollen. Seine Worte, das spürt er, laufen ins Leere. Papageien-gleich. Plappern ins Nichts.
Hanni Hüsch war 40 Jahre lang in unterschiedlichen Positionen bei der ARD tätig. Von 2019 bis 2022 war sie Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio. Ihr Schwerpunkt: Gesundheitspolitik. Sie erlebte Lothar Wieler in unzähligen Pressekonferenzen und beobachtete das Zusammenspiel mit den Ministern Jens Spahn und Karl Lauterbach während der Corona-Pandemie.
Eine Truppe von Käfer-Zählern?
Seit 2015 steht der studierte Tiermediziner und Mikrobiologe dem Robert Koch-Institut mit seinen mehr als 1000 Mitarbeitenden vor. Der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe hat den renommierten Wissenschaftler einst geholt. Wielers Wissen über Antibiotika-Resistenzen, seine Expertise in der "One Health Strategie", die die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt zusammen denkt, beeindrucken den CDU-Mann. Wie wichtig das Wissen über Virenübertragung vom Tier auf den Mensch werden wird, ahnt da noch niemand.
Wieler übernimmt eine dem Gesundheitsministerium nachgeordnete Behörde, von der kritische Geister sagen, sie sei eine Truppe von Käfer-Zählern, vor der Pandemie bisweilen bräsig und im Grunde irrelevant. Corona ändert das. Das Virus spült das RKI ins Bewusstsein eines jeden Bürgers - und Lothar Wieler in die Rolle des Covid-Cheferklärers. Raus aus dem Wissenschaftsturm, rein in die ihm fremde Welt des Politbetriebs. Und direkt vor die Kameras der Hauptstadtmedien. "Terra incognita", aber jetzt eben Teil des Jobprofils, sagt der Seuchenfachmann nüchtern.
Spahn braucht bessere News
Es läuft so mäßig mit dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn. Der kontrolliert zwar gern, folgt als Nichtmediziner aber zunächst auch der Expertise des RKI. Bis zum Sommer 2021. Die Bundestagswahl naht, Spahn mischt im Team Laschet mit. Er braucht auch bessere News.
Wieler und sein Chef, der Gesundheitsminister, streiten über den Wert der Inzidenzen als Bewertungsmaßstab für die Corona-Maßnahmen. Wieler will sie als wichtigsten Indikator behalten. Spahn nicht.
Jens Spahn (CDU, r), Bundesgesundheitsminister, und Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, beantworten während einer Pressekonferenz zur Corona-Impfkampagne am 8. September 2021 die Fragen von Journalisten.
Wo ist Wieler?
Plötzlich fehlt der RKI-Chef bei den wöchentlichen Auftritten vor der Bundespressekonferenz. Einen Sommer lang. Gefrustet? In Ungnade gefallen? Wo ist Wieler?, fragen die Medien besorgt. Längst ist der RKI-Chef auch im Visier von Coronaleugnern, er erhält Morddrohungen. Politisch arbeitet sich vor allem die FDP an ihm ab. Sie will endlich den "Freedom-Day," aber nicht nur die Liberalen kritisieren die Datenlage des RKI.
Im Herbst ist Wieler wieder da. Auf der Bank vor der blauen Wand, warnt weiter. Manchmal klingt er verzweifelt. Im Winter übernimmt die Ampel-Regierung und ein neuer Dienstherr. Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist auch ein Mediziner. Aber es läuft jetzt noch schlechter.
Der Knall mit Lauterbach
Der richtig große Knall folgt schnell. Lauterbach verordnet dem RKI mehr Kompetenz, Wieler nutzt sie und verkürzt den Genesenenstatus, den Minister informiert er nicht. Die Länder toben, über Nacht verlieren Hunderttausende Bürger die Chance auf einen Restaurantbesuch. Lauterbach ist düpiert, schiebt den Schwarzen Peter zu Wieler, die FDP verlangt den Rücktritt. Wieler fühlt sich verraten. Die "Bild" titelt: "Wieler wackelt."
Der Lothar sei halt nicht genug Behördengeneral, mehr Wissenschaftler und Freigeist, sagt einer, der ihn gut kennt und schätzt. Und er sei viel emotionaler, als es die Auftritte mit eiserner Miene bei Pressekonferenzen vermuten ließen. Es tut weh, als der Kanzler einen Corona-Expertenrat einberuft, der von da an die Ratschläge erteilt.
RKI zwischen Wissenschaft und Politik
Das problematische Verhältnis wirft ein Schlaglicht auf die schwierige Grundkonstellation im RKI: wissenschaftlich unabhängig sein und doch dem Minister dienen, seinen Weisungen folgen und die Legitimation für Regierungshandeln liefern.
Jetzt, wo Wieler den Weg frei macht an der Spitze von Deutschlands oberster Seuchenbehörde, nimmt die Diskussion zur Zukunft des RKI Fahrt auf. Soll das Institut mehr Beinfreiheit bekommen? Das hieße die Emanzipation vom Ministerium. Oder braucht es zwei Behörden: eine, die unabhängig forscht, und eine zweite, die bundesamtlich Aufklärung betreibt?
Vor allem braucht es eine bessere digitale Vernetzung. Der will sich Wieler im neuen Job jetzt widmen. Durch sein stetes Warnen habe er viele Menschenleben gerettet, lobt ihn Lauterbach zum Abschied.
Doch Wieler gibt sich auch selbstkritisch: Er hätte besser kommunizieren müssen, in der sich rasant verändernden Erkenntnislage. Aber Zeit und Mittel fehlten, sagt Wieler rückblickend in einem Interview mit der "Zeit". Und dass seine Behörde sehr wohl Alternativen zu den Schulschließungen vorgeschlagen habe.
Die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen. Politik und Wissenschaft schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die hochumstrittenen Schulschließungen zu. Aber diesen Schwarzen Peter will der Wissenschaftler Wieler nicht.