Bildungsmisere Die Schullotterie
In Städten wie Köln fehlen Plätze an den weiterführenden Schulen. Die wenigen, die es gibt, werden im Losverfahren vergeben. Wer Pech hat, muss Schulwege von bis zu drei Stunden hinnehmen. Eltern sind empört.
"Man wird mit der Situation einfach komplett allein gelassen", erzählt Maria Barbara Lübbering. Sie ist 31 Jahre alt, alleinerziehende Mutter in Köln und enttäuscht. Sie steckt mitten in ihrem Lehramtsreferendariat und jetzt erhält sie für ihre zehnjährige Tochter eine schlechte Nachricht nach der nächsten: Sofia wurde von den Kölner Gymnasien in der Nähe abgelehnt, die Schulen seien voll, heißt es. "Das bringt mich in eine Situation, in der ich mir wirklich große Sorgen mache. Das macht mich wütend", sagt die junge Mutter.
Eine Fahrzeit von insgesamt drei Stunden ist in NRW für Schülerinnen und Schüler zumutbar. Lübbering kritisiert: "Die scheinen keine Ahnung zu haben, was solche Entscheidungen und Beschlüsse letztendlich für unsere Lebensrealität und unseren Alltag bedeutet."
Eine riesige Belastung
Sie sorgt sich vor dem Beginn des Schuljahres auf der weiterführenden Schule. "Ich weiß nicht, wie das dann mit dem Hin- und Herfahren mit Bus und Bahn jeden Tag klappen soll." Sie müsse ja selbst zu einer bestimmten Uhrzeit bei der Arbeit sein und auch bis zu einer bestimmten Uhrzeit dort bleiben. Der weite Schulweg wäre eine riesige Belastung für die kleine Familie und die Leidtragende wäre die zehnjährige Sofia.
"Ich fühle mich machtlos"
Eine andere Mutter aus Köln berichtet von ähnlichen Problemen. Sie möchte ihren Namen nicht nennen. "Ich schlafe seit der Absage einer Schule für meinen Sohn nicht mehr richtig und habe Panik. Mein Sohn ist traurig und versteht die Welt nicht mehr", berichtet sie. "Ich fühle mich machtlos. Die Stadt kennt die Probleme und empfiehlt uns Privatschulen und Nachbargemeinden als ernsthafte Alternativen." Man könne nicht mehr wählen, sondern nur noch hoffen, überhaupt einen Platz zu bekommen.
Das sind zwei Fälle von enttäuschten Eltern, die keinen Schulplatz für ihre Kinder finden. Und damit leider kein Einzelfall, berichtet Olaf Wittrock. Er ist Mitbegründer der Initiative "Die Abgelehnten" und Journalist. "Allein mit den abgelehnten Kindern an den weiterführenden Schulen könnte man problemlos zehn weitere Schulen füllen. Die gibt es aber nicht", kritisiert Wittrock.
Hunderte Schulplätze fehlen allein in Köln
In Köln fehlen laut Wittrock seit Jahren Hunderte Schulplätze, vor allem an Gesamtschulen und Gymnasien, neuerdings aber auch an Grundschulen. Hunderte Erstklässler hätten keinen Platz an der nächstgelegenen Grundschule bekommen.
Der Schulbau müsse viel schneller werden, genauso wie Sanierungen. "Es geht viel zu langsam. Dabei sind die Kinder, um die es geht, ja schon sechs Jahre auf der Welt, bevor sie zur Schule gehen. Genug Vorlauf, möchte man meinen", sagt Wittrock. Die Mehrzahl der Schulen lasse am Ende das Los entscheiden, wer einen Platz bekommt. "Der ganze Ablauf steckt voller Ungerechtigkeiten. Am Ende sind alle Verlierer."
Kluge Verteilmechanismen nötig
Ein Problem, auf das Gerhard Brand schon lange aufmerksam macht. Er ist der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung. "Gerade in Ballungsgebieten und bei besonders beliebten Schulen können die Schulwünsche oft nicht mehr realisiert werden", bestätigt Brand. "Es braucht kluge Verteilmechanismen, die gewährleisten, dass Kinder nicht stundenlang über Land fahren müssen, um an die weiterführende Schule zu kommen."
Der Lehrkräftemangel sei das zentrale Problem für das Bildungssystem. Wie groß der Mangel tatsächlich ist, dazu gibt es sehr unterschiedliche Zahlen. Laut Kultusministerien der Länder sind momentan 12.000 Lehrerstellen unbesetzt. Der Deutsche Lehrerverband spricht von 32.000 bis 40.000 freien Stellen.
Klaffende Personallücke
Der Verband Bildung und Erziehung hat eine repräsentative Meinungsumfrage unter Schulleitungen durchgeführt. Entsprechend der Antworten konnte berechnet werden, dass zu Schuljahresbeginn 2022/23 an den Schulen in Deutschland 50.000 Lehrkräfte fehlten. "Die momentan in Schulen Tätigen sind mit höchstem Engagement dabei, die schon klaffenden Lücken in der Personaldecke zusammenzuhalten", sagt Brand. Wenn denen keine Perspektive geboten werden könne, dass es wieder besser wird, werde es auf Dauer immer schwerer, sie zu motivieren.
"Wir brauchen ganz dringend spürbare Entlastungen von Verwaltungsarbeiten und allem, was nicht den originären Unterricht betrifft, um Schule auch als Arbeitsort wieder attraktiv zu machen", fordert er. Sonst könnte auch den Eltern und Kindern nicht geholfen werden.
Eine Lösung wünschen sich auch die betroffenen Eltern, wie Maria Barbara Lübbering: "Die Entscheidung, welche Schule das Kind besucht, ist ein wichtiger Wegweiser, den wir noch setzen können", so die junge Mutter aus Köln. "Dass uns dieser Wegweiser nun einfach so aus der Hand gerissen wurde, ist ein fieses Gefühl."