Ein Gaszähler hängt an einer Gastherme.
FAQ

Nord Stream 1 Wie gut ist Deutschland vorbereitet?

Stand: 20.07.2022 21:53 Uhr

Wie gut ist die Bundesregierung darauf vorbereitet, dass weniger Gas - oder irgendwann vielleicht gar keins mehr - durch Nord Stream 1 fließt? Wie teuer könnte es werden? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Jan Zimmermann, ARD-Hauptstadtstudio

Wie steht es um die Gasversorgung in Deutschland?

"Die Lage ist angespannt und eine Verschlechterung der Lage kann nicht ausgeschlossen werden", beschreibt die Bundesnetzagentur die Situation schon seit Tagen. Aber die Behörde betont: "Die Gasversorgung ist im Moment stabil." Die Versorgungssicherheit sei weiter gewährleistet.

Schwieriger ist die Lage mit Blick auf die deutschen Gasspeicher. Weil deutlich weniger Gas in Deutschland ankommt, gestaltet sich das Befüllen der Speicher für den kommenden Winter schwerer. Derzeit sind diese zu rund 65 Prozent gefüllt. Nach dem russischen Lieferstopp vor eineinhalb Wochen hat sich diese Zahl nur langsam erhöht, weil zeitweise auch Gas aus den Speichern entnommen wurde.

Bis zu den vom Bundeswirtschaftsministerium geforderten Füllständen - im Oktober 80 Prozent und im November 90 Prozent - ist es bei vielen Speichern noch ein weiter Weg.

Der größte deutsche Speicher im niedersächsischen Rehden kommt gerade mal auf knapp 34 Prozent. Der dortige Betreiber gibt sich aber zuversichtlich: Man habe bisher "keine Auswirkungen des Nord-Stream-Stillstandes" feststellen können und nehme auch an, dass weiterhin Gas eingespeichert werden kann.

Wie hat sich die Bundesregierung vorbereitet?

Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat haben in den vergangenen Wochen mehrere Gesetze auf den Weg gebracht und verabschiedet, um in die Märkte schützend eingreifen zu können. Zum einen setzt Wirtschaftsminister Robert Habeck kurzfristig auf Gaseinsparungen - sowohl in der Industrie als auch in privaten Haushalten. Über eine Priorisierung wurde in den vergangen Tagen viel diskutiert.

Wenn nötig, könnte Habeck die dritte und höchste Stufe des Gas-Notfallplans ausrufen, die "Notfallstufe". Die Bundesnetzagentur würde dann die Gasverteilung regeln. Bayern fordert dies bereits. Laut dem bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger sollten große Gaskraftwerke schon jetzt runtergefahren werden, um Gas einzusparen.

Per Ministerverordnung kann Habeck Kohlekraftwerke wieder hochfahren lassen oder länger in Betrieb halten. Für Steinkohlekraftwerke hat er eine solche Verordnung bereits erlassen, für Braunkohlekraftwerke in Aussicht gestellt. 

Die Europäische Kommission hat einen Gasplan für den Notfall vorgestellt. Nach diesem sollen die Mitgliedsländer - wenn nötig - zum Gassparen gezwungen werden können. Voraussetzung ist, dass die Kommission den Notstand ausruft. Dies kann sie auch, wenn sie von mindestens drei EU-Staaten dazu aufgefordert wird. Die EU-Staaten müssen diesem Plan noch zustimmen. In den kommenden Monaten sollen die Länder ihren Gasverbrauch bereits freiwillig um 15 Prozent im Vergleich zum Schnitt der vorangegangenen fünf Jahre verringern.

Wie teuer wird Gas noch?

Diese Frage kann heute niemand genau beantworten. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine kennt der Gaspreis eigentlich nur noch eine Richtung: nach oben. Im Juni war der Großhandelspreis zwischenzeitlich zurückgegangen, aber im Juli wieder deutlich angestiegen, schon vor dem 11. Juli und damit vor den Wartungsarbeiten an Nord Stream 1. Zuletzt haben sich die Preise auf hohem Niveau eingependelt. In der Folge müssen sich auch Unternehmen und Verbraucher auf weiter steigende Gaspreise einstellen.

Für Haushalte schnellten die Preise innerhalb eines Jahres um zirka 160 Prozent nach oben, wie das Vergleichsportal Verivox mitteilt. Bei einem Jahresverbrauch von 20.000 Kilowattstunden Gas (ungefährer Verbrauch eines Vier- bis Fünf-Personen-Haushalts) standen im Juli 2021 noch rund 1200 Euro auf der Rechnung, ein Jahr später sind es schon knapp 3200 Euro. Sollte Russland die Gaslieferungen weiter drosseln oder ganz einstellen, könnte sogar eine Verdreifachung der Preise drohen, prognostizieren Experten.

Wie könnte russisches Gas ersetzt werden?

Für Energieexperten und Politik ist klar: Erdgas aus Russland kann kurzfristig nicht eins zu eins ersetzt werden. Das Ziel muss vielmehr sein, Gas einzusparen, überall dort, wo es geht. Um Gas zu sparen, sollen künftig auch wieder mehr Kohlekraftwerke laufen. Sie sollen die Gaskraftwerke in der Stromproduktion ersetzen.

Dort, wo Erdgas nicht eingespart werden kann, setzt die Bundesregierung auf Gaslieferungen aus anderen Ländern. Kurzfristig sollen zum Beispiel Norwegen und die Niederlande, die Deutschland schon beliefern, noch mehr Gas zur Verfügung stellen. Die Bundesregierung setzt insbesondere auf Flüssiggas. Aktuell sind vier schwimmende sogenannte LNG-Terminals vorgesehen, von denen je eines in Wilhelmshaven und in Brunsbüttel bis zum Jahresende in Betrieb gehen soll.

Die beiden anderen Terminals sollen im kommenden Jahr in Stade und in Lubmin ihre Arbeit aufnehmen. Tanker mit Flüssiggas können an den schwimmenden Terminals anlegen und von dort das Gas über Leitungen an Land bringen. Ein fünftes schwimmendes Terminal soll ebenfalls in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern entstehen, schon Ende des Jahres. Hinter diesem Investment steht allerdings nicht die Bundesregierung, sondern ein privates Konsortium.

Auch auf EU-Ebene werden mit Hochdruck neue Lieferanten gesucht und zum Beispiel in Aserbaidschan gefunden. Das Land will in Zukunft doppelt so viel Erdgas nach Europa liefern wie bisher. Die Gasmenge soll von aktuell 8,1 Milliarden Kubikmeter jährlich auf zwölf Milliarden im kommenden Jahr und bis 2027 auf 20 Milliarden Kubikmeter jährlich steigen. Das Gas aus Aserbaidschan fließt über den Südlichen Gaskorridor, einen Zusammenschluss von Pipelines, die Erdgas vom Kaspischen Meer über Georgien und die Türkei nach Italien transportieren.

In den vergangenen Monaten wurden bereits Vereinbarungen mit den USA, Katar, Norwegen, Algerien und Israel getroffen. Auch Ägypten bot sich diese Woche als Gaslieferant für Europa und Deutschland an.

Wie groß ist die Abhängigkeit?

Deutschland ist nach wie vor abhängig von russischem Gas. Vor dem Krieg in der Ukraine lag der Anteil der russischen Gaslieferungen lange über 50 Prozent. Ende Juni sank er auf 26 Prozent, meldet das Bundeswirtschaftsministerium. Das liege auch an den gedrosselten Lieferungen von Gazprom. Mitte Juni reduzierte der russische Staatskonzern seine Liefermenge über Nord Stream 1 um über die Hälfte.

Das Wirtschaftsministerium geht davon aus, dass bis Ende des Jahres der Anteil russischer Gaslieferungen am deutschen Gasverbrauch auf etwa 30 Prozent gesenkt werden kann.

Ein sofortiger Lieferstopp wird die Wirtschaft schwer treffen, warnen Ökonomen. Die Preise würden höchstwahrscheinlich weiter steigen und vermutlich zu Abstürzen an den Finanzmärkten führen. Das Ifo-Institut schätzt die Kosten auf 220 Milliarden Euro, sollte Deutschland von heute auf morgen auf russisches Gas verzichten müssen. Die Wirtschaftsleistung könnte dadurch um sechs bis zwölf Prozent sinken, eine Rezession droht.  

Viele Unternehmen sind von Gas abhängig, vor allem die Chemiebranche. Sie ist mit 15 Prozent der größte Gasverbraucher in Deutschland. Sollte die Gas-Notfallstufe ausgerufen werden und die Bundesnetzagentur entscheiden, wer wie viel Gas bekommt, hätten die Pharma- und Lebensmittelbranche Vorrang vor beispielsweise Produzenten von Süßigkeiten, so Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur.

Privathaushalte, Krankenhäuser und Pflegeheime sind gesetzlich besonders geschützt. Aber: Die Bundesregierung hat das Energie-Sicherheitsgesetz geändert, auch um Einsparmaßnahmen beim Gas künftig verordnen zu können. Den Verbrauchern könnten in der Folge Vorgaben zur Gaseinsparung gemacht werden.

Jan Zimmermann, Jan Zimmermann, ARD Berlin, 20.07.2022 15:31 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 06. Juli 2022 um 19:15 Uhr.