Abstimmung über Kompromiss Bringt das Bürgergeld einen Systemwechsel?
Heute sollen Bundestag und Bundesrat den Kompromiss zum Bürgergeld beschließen, damit es im Januar Hartz IV ersetzen kann. Ist damit ein Systemwechsel verbunden? Experten sind mit diesem Begriff eher vorsichtig.
Kommt mit dem Wechsel von Hartz IV zum Bürgergeld tatsächlich ein Systemwechsel? Lange haben Regierungskoalition und CDU/CSU um einen Kompromiss dazu gerungen. Nun geht es um die Deutung. Die Parteien der Ampelkoalition sprechen noch immer von einem Systemwechsel. Die Union sagt, sie hätte diesen Systemwechsel verhindert. Wie beurteilt die Fachwelt diese Frage?
Sowohl als auch
Systemwechsel oder nicht? Bettina Kohlrausch vom WSI, dem Wirtschaftsinstitut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, denkt, dass man grundsätzlich mit "sowohl als auch" antworten muss. Das liege vor allem daran, dass vieles sich ändert und vieles vom Prinzip her bleibt.
Was geblieben ist
Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft Köln lehnt den Begriff Systemwechsel von vornherein ab. Seine Begründung: Das Bürgergeld ist wie Hartz IV eine steuerfinanzierte Grundsicherungsleistung, die dazu noch an Bedingungen gebunden ist. Diese Bedingungen seien ja geblieben: also beispielsweise Bedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und eine gewisse Mitwirkungspflicht, wenn es darum geht, wieder eine Arbeit zu finden.
Tatsächlich sind auch die Streitpunkte zwischen Union und Bundesregierung weniger grundsätzlich gewesen, als es den Anschein hatte. Schonvermögen gibt es von jeher, Sanktionen auch, es ging nur um das wie viel und wie lange.
Auch in anderer Hinsicht ist alles beim Alten geblieben: Die Höhe des Bürgergeldes ist eher knapp bemessen, die daran geäußerte Kritik von Sozialverbänden und der Linken ist kaum zu überhören.
Was anders wird
Interessant sind die Änderungen, die mit dem Bürgergeld kommen und die auch bei der Kompromissfindung zwischen Bundesregierung und Union kaum in Frage standen.
Waldemar Dombrowski von der Gewerkschaft für Arbeit und Soziales vertritt diejenigen, die in den Jobcentern mit dem Bürgergeld arbeiten werden. Er findet, das Bürgergeld eröffne den Mitarbeitenden in den Jobcentern die Chance, mit den Menschen intensiver und zukunftsorientierter zu arbeiten, ihnen auch finanzielle Anreize zu bieten, wenn sie eine Ausbildung oder Umschulung anfingen. Gleichzeitig begrüßt er aber auch das vielzitierte Prinzip "Fördern und Fordern", weil die Jobcenter seiner Meinung nach Unwilligen gegenüber etwas in der Hand haben müssen. Und zwar mehr, als die Ampel ursprünglich geplant hatte.
Weiterentwicklung und Evolution
Dombrowski versteht das Bürgergeld eher nicht als einen Systemwechsel. Er spricht von Weiterentwicklung. Das sieht auch Holger Schäfer vom IW Köln so - er nennt es Evolution.
Einen Punkt allerdings gibt es, der in das bisherige System gravierend eingreift: Bisher ging es darum, Menschen möglichst schnell einen Job zu vermitteln, auf die Gefahr hin, dass das nicht lange gutgeht. Denn weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer kommen zurecht, wenn es einfach nicht passt.
Beim künftigen Bürgergeld sollen Ausbildung und Umschulung Vorrang haben, damit die Betroffenen einen besseren Job auf Dauer finden. Und da wird Bettina Kohlrausch vom WSI dann doch grundsätzlich: "Das ist ein Systemwechsel, weil der sogenannte Vermittlungsvorrang abgeschafft worden ist, das heißt: Menschen werden nicht um jeden Preis in Arbeit geschickt, sondern es gibt einen viel stärkeren Fokus auf Qualifizierung." Und das ist die richtige Antwort auf den Fachkräftemangel, da sind sich alle einig.
Der Teufel steckt im Detail
Marcel Fratzscher vom Wirtschaftsforschungsinstitut DIW hat das Bürgergeld von Anfang an eher begrüßt. Er sieht Nachbesserungsbedarf bei der Höhe der Regelsätze. In Sachen Systemwechsel möchte er sich nicht festlegen. Noch nicht: "Ob es ein Systemwechsel wird oder nicht, hängt wirklich von der Umsetzung ab - der Teufel liegt im Detail, also sprich: Wird es gelingen, die Betroffenen zu qualifizieren, ihnen gesundheitlich zu helfen? Aber grundsätzlich ist es erst einmal ein großer Schritt in die richtige Richtung."
So einfach ist das nicht
Der allerdings nach Angaben der Gewerkschaft für Arbeit und Soziales Folgen hat. 1500 Arbeitskräfte mehr brauchen die Jobcenter demnach, weil es aufwändiger ist, eine passende Ausbildung oder Umschulung zu organisieren als in den nächstbesten Job zu vermitteln. Also, Systemwechsel ja oder nein?
So einfach ist das nicht, deshalb gleich drei Schlussfolgerungen. Erstens: Die befragten Fachleute sind mit dem Begriff Systemwechsel eher vorsichtig. Zweitens: Wie man auf die Frage nach dem Systemwechsel antwortet, hängt vor allem davon ab, welchen Aspekt man am wichtigsten nimmt. Und drittens: nach einem Jahr Praxis wissen wir mehr.