AKW-Debatte Wie zerrissen sind die Grünen?
Ohne die Anti-Atomkraftbewegung würde es die Grünen nicht geben. Nun könnte die Partei mit einem Dogma brechen. Wie kommen sie da nur raus?
Viele grüne Seelen dürften die aktuelle Atomdebatte als persönlichen Stresstest erleben. Die Partei wurde in Westdeutschland Anfang der 1980er-Jahre gegründet von Linken, Friedensbewegten, Umweltschützern und - ganz wichtig - von Mitgliedern der Anti-Atomkraft-Bewegung.
Bereits im ersten Parteiprogramm fand sich die Forderung nach einem sofortigen Bau- und Betriebsstopp aller Atomkraftwerke. Von der rot-grünen Koalition wurde im Jahr 2000 der erste Atomausstieg auf den Weg gebracht. Nach geltendem Recht müssen die drei Kernkraftwerke Neckarwestheim 2, Emsland und Isar 2 spätestens am 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden. Der Silvestertag dürfte in vielen grünen Kalendern bereits fett angestrichen sein. Die Diskussion über den Weiterbetrieb dieser drei Atommeiler rüttelt an den Grundfesten der grünen Partei.
Welche Positionen gibt es innerhalb der Grünen?
Angesichts der russischen Invasion in die Ukraine und Störungen bei der Lieferung von russischem Gas hatte bereits Ende Februar der grüne Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck offen eine Laufzeitverlängerung der drei AKWs ins Gespräch gebracht. Kurz darauf sprach sich auch der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg gegen "Denkverbote" aus.
Seitdem hat die Debatte an Fahrt aufgenommen. Union und AfD und auch der Ampel-Koalitionspartner FDP sind dafür, die noch aktiven Meiler länger als nur bis Ende des Jahres laufen zu lassen. Auch bei der SPD halten einige einen sogenannten Streckbetrieb für denkbar.
Das erhöht den Druck auf die Grünen, eine Position zu entwickeln. Einen Streckbetrieb mit bereits im Einsatz befindlichen Brennstäben hat die grüne Bundestagsvizepräsidentin Kathrin Göring-Eckardt für eine "wirkliche Notsituation" nicht ausgeschlossen.
"Zwischen Pest und Cholera"
Auch Bayerns Grüne sind offen für einen Weiterbetrieb. Für den Fall einer Gasmangellage käme Zustimmung auch von den Thüringer Grünen. Dagegen lehnen zum Beispiel die Grünen in Niedersachsen einen Streckbetrieb strikt ab.
In anderen Landesverbänden, so etwa Sachsen und Sachsen-Anhalt, verweist man auf den vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen zweiten Stresstest, also die derzeit laufende Überprüfung der Stromversorgung im Winter. Dessen Ergebnis wolle man abwarten.
Die Grüne Jugend spricht mit Blick auf den Plan abgeschaltete besonders klimaunfreundliche Kohlekraftwerke wieder zu reaktivieren von einer Wahl zwischen Pest und Cholera. Die innerparteiliche Diskussion erinnert an alte Realo und Fundi-Debatten der Grünen.
Wie geht die Partei mit der innerparteilichen Atomdebatte um?
Die Frage eines Streckbetriebs oder einer befristeten Laufzeitverlängerung treibt die grüne Mitgliederschaft von der Basis bis zur Parteispitze um und könnte sie spalten. Die Parteizentrale ist daher bemüht, in der Öffentlichkeit ein Bild der Geschlossenheit zu zeichnen. Laut einem Bericht der "Welt" empfahl die Bundesgeschäftsstelle in einer Handreichung eine Sprachregelung für die AKW-Debatte.
Demnach hieß es darin, man lasse sich nicht von Scheindebatten treiben. Fragen sollten "so unaufgeregt und knapp wie möglich" beantwortet werden. Beobachter können trotz der gelegentlich artikulieren unterschiedlichen Positionen bislang keinen deutlichen Riss durch die grüne Partei ausmachen.
Für die Parteiführung könne es dennoch eine Herausforderung werden, die verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei zusammenzuhalten, so Politikwissenschaftler Antonios Souris. Er sieht in der von der Parteichefin Ricarda Lang gezogenen roten Linie, dass aus einer befristeten Laufzeitverlängerung, keine dauerhafte wird, eine Chance.:Vielleicht kann das am Ende ein Kompromiss sein, der letztlich der Notsituation gerecht wird, aber eben die Partei nicht langfristig mit einem Wiedereinstieg in die Atomkraft verbindet."
Wie könnte die grüne Partei das Dilemma lösen?
Tatsächlich erleben die Grünen das, was andere Parteien schon vor ihnen erlebten: Die im Parteiprogramm festgelegten Ziele und notwendige Regierungsentscheidungen passen nicht immer gut zusammen. Souris sieht hier ein Dilemma. Parteien würden dies häufig erleben, "dass die Programmatik nicht mehr so richtig zum Regierungsalltag und zur Regierungswirklichkeit zu passen scheint", sagt er.
Um als zuverlässiger und verantwortungsbewusster Regierungspartner wahrgenommen zu werden, müssen die Grünen im Falle des Falles wohl die bittere Kröte schlucken und bei der Frage einer befristeten Laufzeitverlängerung Kompromissbereitschaft signalisieren. Den Mitgliedern muss die Parteispitze klar machen, dass man die DNA der Partei nicht verraten und am generellen Ausstieg aus der Atomkraft festhalten wird. Viele in der Partei dürften jedoch hoffen, dass er der derzeit laufende Stresstest so ausgeht, dass eine weitere Atomdebatte ohnehin unnötig ist.