#ImplantFiles Deutschlands Einsatz für die Industrie
Mehr Sicherheit für die Patienten sollen ab 2020 neue EU-weite Regeln zu Medizinprodukten bringen. Doch Recherchen von NDR, WDR und SZ zeigen: Sie bleiben unzureichend. Dafür hat vor allem Deutschland gesorgt.
"Ich hatte die Hoffnung und den Anspruch, dass ich ein sehr viel höheres Maß an Sicherheit für Patienten, für die Menschen in Europa erreichen kann", sagt Dagmar Roth-Behrendt heute. Die SPD-Politikerin war viele Jahre Abgeordnete im Europaparlament und dort zuständig für ein neues Gesetz zu Medizinprodukten. "Ich wollte eigentlich alles ändern."
Von Ihren Vorhaben habe fast nichts überlebt, stellt Roth-Behrendt fest. "Es ist wie eine offene Wunde in mir, dass man einen so wichtigen Bereich für Menschen in ganz Europa nicht sicherer machen konnte."
Roth-Behrendts Kampf für mehr Patientensicherheit begann 2012. Die EU-Kommission legte damals einen Entwurf für eine Reform der Vorschriften für Medizinprodukte vor. In den Jahren zuvor hatten einige Skandale in diesem Bereich gezeigt, dass das System anfällig ist, dass fehlerhafte, unzureichend getestete Produkte auf den Markt kommen und Patienten schädigen.
Ministerium gegen behördliche Kontrolle
Der Gegendruck war vor allem von den Branchenverbänden zu stark. Aber auch aus Deutschland, aus dem Bundesgesundheitsministerium, kam massive Gegenwehr, sagt Roth-Behrendt. Das belegen auch Akten des Ministeriums, die Reporter von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" eingesehen haben. Tausende Seiten, die zeigen, wie erfolgreich die Industrie ihre Vorstellungen durchsetzen konnte.
Roth-Behrendt wollte vor allem erreichen, dass künftig bei hoch-riskanten Medizinprodukten wie Herzschrittmachern oder anderen Implantaten eine zentrale Behörde für die Zulassung zuständig ist, so wie es auch bei Arzneimitteln der Fall ist. Das Bundesgesundheitsministerium, damals noch unter FDP-Führung, wollte genau das verhindern. Dort galt eine staatliche Zulassung als zu ineffizient, zu teuer, als mit zu vielen Auflagen für die Hersteller verbunden.
Medizinprodukte sind Gegenstände, Apparate, Stoffe oder Instrumente, die am oder im Körper wirken. Sie greifen allerdings nicht wie Medikamente in den Stoffwechsel ein, sondern wirken physisch. Zu Medizinprodukten gehören beispielsweise Pflaster, Blutdruckmessgeräte, Herzschrittmacher oder auch Kondome. Die Produkte werden in vier Risikoklassen unterteilt. Zur niedrigsten Klasse I gehören zum Beispiel Verbandmaterial und Rollstühle. Zur höchsten Herzschrittmacher und Herz-Lungen-Maschinen.
"Innovationsfreundlicher Rechtsrahmen"
Im Juni 2011 fasste ein Referatsmitarbeiter des Ministeriums die Ziele für die Neufassung der Vorschriften zusammen. Demnach sollte ein hohes Maß an Sicherheit und Gesundheitsschutz gewährleistet werden, aber auch ein "innovationsfreundlicher Rechtsrahmen", also ein "schneller Marktzugang" für neue Produkte, so wie bis dahin.
Damals wie heute ist lediglich ein CE-Zertifikat nötig, ausgestellt von einer privaten Stelle wie dem TÜV. Dieses System wollte das Ministerium erhalten im Sinne der Industrie, die allzu strenge Regeln als "Innovationsbremse" ablehnt. Sicherheitsrisiken sah das Ministerium nicht.
Nachwirkungen des PIP-Skandals
Andere Staaten drängten jedoch darauf, ein "echtes Zulassungssystem" für Hoch-Risiko-Produkte einzuführen - vor allem nach dem Skandal um Brustimplantate, der 2010 aufgeflogen war. Die Firma PIP hatte heimlich billiges Industriesilikon in ihre Produkte gefüllt. Für die Zertifizierung und Überwachung der Firma zuständig war der TÜV Rheinland.
Noch immer laufen Gerichtsverhandlungen wegen der Frage, welche Verantwortung der TÜV hatte. Betroffen waren mehr als 80.000 Frauen, insbesondere aus Frankreich. Danach begann in Brüssel ein Ringen um verschärfte Richtlinien.
Frankreich wollte staatliche Zulassung
Der französische Gesundheitsminister versuchte Anfang 2012, eine Mehrheit in Europa für eine staatliche Zulassungsbehörde zusammenzubekommen. Er bat den deutschen Amtskollegen Daniel Bahr (FDP), ein entsprechendes Papier zu unterzeichnen.
Doch die zuständige Referatsleiterin im Bundesgesundheitsministerium machte deutlich, die Unterzeichnung des Schreibens dürfte "allerdings bereits jetzt ausscheiden, da die verfolgten Ziele mit der deutschen Position nicht übereinstimmen."
EU-Kommission stellt sich auf Deutschlands Seite
Und auch die EU-Kommission schwenkte auf diese Linie ein. Im September 2012 stellte sie fest: Eine zentrale Zulassungsbehörde aufzubauen, hätte große Auswirkungen auf das EU-Budget und würde die Industrie belasten, mit höheren Kosten, mehr Bürokratie und längeren Prozessen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Medizinprodukteindustrie in der EU stünde auf dem Spiel.
Als Beleg diente eine zehnseitige Studie von Unternehmensberatern. Die Forderung von Roth-Behrendt und einigen EU-Ländern war damit bereits faktisch tot, auch wenn die Debatte um die neuen Regeln noch einige Jahre andauerte.
Diskutiert wurde unter anderem noch, ob zumindest die Entscheidungen der Zertifizierungsstellen wie dem TÜV noch einmal von einem unabhängigen Experten-Gremium überprüft werden sollten. Die Industrie wollte auch das verhindern, doch dem deutschen Gesundheitsministerium war klar: Es würde sich in den Verhandlungen kompromissbereit zeigen müssen.
Deutschland sucht Kompromisse für Lobby
In einem Protokoll einer Ressortbesprechung des Gesundheitsministeriums im Februar 2013 heißt es: Eine Streichung der Vorschrift wäre wünschenswert, allerdings wohl schwierig zu erreichen. Da das Europaparlament und Teile des Rates "ein Zulassungssystem für Hochrisiko-Produkte präferieren, sollte die Vorschrift hier als politische Antwort und Verhandlungsmasse eingesetzt werden", steht in dem Protokoll.
Im Juni 2013 war der zuständige Staatssekretär Thomas Ilka zu Gast beim Branchen- und Lobbyverband BVMed. Auch hier wurde die Position des Ministeriums deutlich: "Wenn wir den Systemwechsel verhindern wollen, brauchen wir vernünftige Alternativen", erläuterte Ilka laut Redemanuskript. "Eine reine Ablehnungshaltung reicht hier nicht aus."
Deutschland wollte erreichen, dass die Überprüfungen zwar formal eingeführt werden, aber möglichst wenig stören. Anfang 2016 dauerten die Verhandlungen noch immer an. In einem Papier des Gesundheitsministeriums, mittlerweile unter CDU-Führung, zur Vorbereitung einer weiteren Gesprächsrunde heißt es, Ziel sei es, die Überprüfungen "auf möglichst nur fünf bis zehn im Jahr" zu begrenzen. Dabei kommen jährlich Hunderte neue und auch riskante Medizinprodukte auf den Markt.
An dem Projekt unter dem Titel "The Implant Files" waren mehr als 250 Journalisten von knapp 60 verschiedenen Medien aus 36 Ländern beteiligt. Darunter sind die BBC, "Le Monde", AP sowie unter anderem Medien aus Japan, Südkorea, Pakistan, Indien, Argentinien, Brasilien, Mexiko und vielen europäischen Ländern. Koordiniert wurde die Recherche vom Internationalen Konsortium Investigativer Journalisten (ICIJ).
Deutschlands herstellerfreundliche Position setzt sich durch
Auch an anderen Stellen der Verhandlungen - etwa als es um Auflagen für klinische Studien oder die Frage einer Pflichtversicherung für die Hersteller ging - positionierte sich das deutsche Ministerium immer wieder im Sinne der Industrie: Kosten gering halten, die Wettbewerbsfähigkeit sichern.
Am Ende setzte sich die deutsche Regierung in den meisten Punkten durch. Die neuen EU-Regeln für Medizinprodukte wurden vergangenes Jahr verabschiedet. Das System bleibt weitgehend bestehen. Das Fazit des Bundesgesundheitsministeriums: Einige "Kröten" habe man schlucken müssen, aber man habe hart verhandelt. "Damit hat Deutschland die Texte mehr als alle anderen Mitgliedstaaten maßgeblich beeinflusst."
Der europäische Lobbyverband MedTechEurope sieht das Ergebnis als Teil-Erfolg. "Große Innovationshemmnisse" seien "entfernt oder ausgeglichen worden", lobte ein Vertreter des Verbands vergangenen Herbst auf einer Konferenz in Brüssel.
Dagmar Roth-Behrendt dagegen ist bitter enttäuscht. Sie sagt, das neue Gesetz sei bei weitem nicht so, wie es sein müsste, um Patientensicherheit zu gewährleisten.