Vor dem Parteitag "Den Grünen bieten sich ganz neue Chancen"
In Umfragen haben die Grünen zuletzt eingebüßt. Eine Trendwende sieht Meinungsforscher Siegel darin aber nicht. Im tagesschau.de-Interview spricht er von "ganz neuen Chancen" und der Gefahr allzu radikaler Positionen.
tagesschau.de: Im Sommer waren die Grünen im Umfragehoch und lagen bei 25 bis 26 Prozent. Inzwischen bei 22 oder darunter. Neigt sich der grüne Boom dem Ende?
Nico Siegel: Wir sollten vor allem die Kirche im Dorf lassen. Aus einzelnen Wahlergebnissen wie zuletzt in Thüringen oder den Schwankungen bei den Umfragen können wir keine ganz großen und dauerhaften Trendbrüche ableiten. Wir beobachten insgesamt eine größere Volatilität - auch bei anderen Parteien. Die Union beispielsweise lag im Februar im ARD-Deutschlandtrend noch bei 30 Prozent und diese Woche bei 25 Prozent.
Gerade bei Union und Grünen war zuletzt besonders viel in Bewegung. Das hängt mit Personen und Themen zusammen. Beispiel Baden-Württemberg: Nachdem dort der amtierende Ministerpräsident Winfried Kretschmann verkündet hat, er stehe über 2021 hinaus erneut als Spitzenkandidat und potenzieller Ministerpräsident bereit, ist der Wert der Grünen bei der Sonntagsfrage in Baden-Württemberg im September auf 38 Prozent geschossen - ein neuer Rekord. Gleichzeitig zeigte sich schon im Wahlkampf in den drei Ostländern in diesem Herbst, dass dort der Fahrstuhl für die Grünen langsamer oder nicht ganz so hoch fährt, wie ein Jahr zuvor bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern.
Nico A. Siegel ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap. Das Institut mit Sitz in Berlin erstellt unter anderem für die ARD den DeutschlandTrend und die Prognosen und Hochrechnungen an Wahlabenden.
"Frage: Wie wirkt sich wirtschaftlicher Strukturwandel aus?"
tagesschau.de: Wie sieht Ihre Prognose aus, wie geht es weiter für die Grünen?
Siegel: Der Korridor ist nach oben und nach unten offen. Langfristig spricht mehr dafür, dass die Grünen sich in den Regionen, in denen sie schon jetzt zugewonnen haben, bei den Umfragen stabilisieren. Das hängt auch damit zusammen, dass wir eine manifeste Krise der klassischen Volksparteien haben. Dadurch eröffnen sich ganz neue Chancenkorridore für die Grünen als noch vor 20 Jahren.
Und Themen wie Klima und Umwelt werden auch in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit eine große Bedeutung haben. 80 Prozent haben zum Beispiel im Deutschlandtrend gesagt: Es gibt da einen großen Handlungsbedarf. Knapp die Hälfte hat gesagt: Die Maßnahmen des Klimapakets der Bundesregierung gehen nicht weit genug. Das ist eine Steilvorlage für die Grünen. Auf der anderen Seite versuchen die anderen Parteien sich ebenfalls besser bei den ökologischen Zukunftsthemen aufzustellen. Das sieht man beispielsweise am bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder.
Ich sehe für die kommenden Jahre noch eine andere Frage: Wie wirkt sich der wirtschaftliche Strukturwandel auf die Chancen und Potenziale der einzelnen Parteien aus? Wie bewältigt ein grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg die Herausforderung durch den Klimawandel einerseits und die große Bedeutung der Automobilindustrie 'im Ländle' andererseits. Da sind so viele Faktoren im Spiel, dass man mit Prognosen sehr vorsichtig sein muss.
"Hauptkompetenz immer noch beim Thema Umwelt"
tagesschau.de: Sind die Grünen sind nach wie vor eine reine Ein-Themen-Partei?
Siegel: Ich würde sagen, sie sind eine Ein-Themen-Plus-Partei. Klar ist, dass die Wähler die Hauptkompetenz der Grünen immer noch beim Thema Umwelt und Klima sehen. Die Partei ist zwar schon länger programmatisch breiter aufgestellt, das kommt aber in der Wahrnehmung in weiten Teilen der Bevölkerung nicht so richtig an.
Politisch hängen an diesen Themen mittlerweile viele andere Fragen, wie Verkehr und Infrastruktur. Außerdem versuchen die Grünen, auch ihr sozialpolitisches Profil zu schärfen. Das sieht man beispielsweise an Robert Habecks Vorstoß für die Garantierente und bei den Fragen von Migration und Asyl. Hier haben sie sich mit ihrem ausgesprochen libertären Profil als Gegenpol zur AfD platziert.
"In den neuen Bundesländern einfach schwierig"
tagesschau.de: Wird diese starke Wahrnehmung als Ein-Themen-Partei den Grünen - gerade in ländlichen Regionen wie in Ostdeutschland - zum Verhängnis?
Siegel: So weit würde ich nicht gehen. Aber es ist natürlich ein Problem oder zumindest eine Herausforderung. Die drei Wahlen im Osten haben bestätigt, was wir schon wussten: Die Grünen sind vor allem stark in den Großstädten, in den urbanen Zentren. In Brandenburg zum Beispiel im Speckgürtel von Berlin. In Sachsen haben sie im innerstädtischen Bereich von Dresden auch um die 20 Prozent erreicht.
In den ländlichen Regionen von Sachsen, Brandenburg und Thüringen tun sie sich tatsächlich schwerer als zum Beispiel in den ländlichen Regionen in vielen westlichen Bundesländern, wo die Grünen mittlerweile häufig zweistellig sind. Die Ausgangssituation in den neuen Bundesländern ist einfach schwierig.
tagesschau.de: Wo liegen thematisch die größten Defizite der Grünen?
Siegel: Zum einen in der Wirtschaftspolitik. Aber auch bei der sozialen Gerechtigkeit tun sie sich schwer, auch weil sie dort mit der Linkspartei und der SPD konkurrieren. Da gibt es durchaus Versuche, sich zu etablieren, wie man am Beispiel Garantierente sieht.
"Viel wird davon abhängen, wie radikal ihre Vorschläge sind"
tagesschau.de: Wo sehen Sie thematisch Potenzial, wie die Grünen sich in Zukunft breiter aufstellen könnten?
Siegel: Vor allem bei ihrem sozial- und wirtschaftspolitischen Profil. Letzteres gelingt insbesondere dort, wo sie in Regierungsverantwortung sind. Es ist ja bemerkenswert, dass Kretschmann, der ja durchaus bürgerliche Positionen in wirtschaftspolitischen Fragen vertritt, einen größeren Rückhalt in der Bevölkerung genießt als Spitzenvertreter aus der Vergangenheit, die eher fundamental-ökologische Positionen eingenommen hatten.
Je mehr sie sich auch bürgerlichen Positionen öffnen, desto größer ist die Chance, dass die Grünen hier von der Schwäche von Union und SPD profitieren. Viel wird auch davon abhängen, ob sie ihre Vorschläge zur Umwelt- und Klimapolitik eher pragmatisch oder eben in der Wahrnehmung vieler eher radikal formulieren. Letzteres würde immer noch erhebliche Wählerschichten abschrecken.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.