Zuwanderung in Deutschland "Integration heißt: Man wird Teil des Landes"
Muslime in Deutschland sehen sich einer Studie zufolge nicht als gleichberechtigt. Die Migrationsexpertin Ferda Ataman sagt im Gespräch mit tagesschau.de, dass in der Diskussion über Flüchtlinge die Integration vernachlässigt werde.
tagesschau.de: Frau Ataman, was macht das Leben für Zugezogene beziehungsweise für deren Nachkommen in Deutschland mitunter unangenehm?
Ferda Ataman: Das fällt mir schwer zu beantworten. Ich bezweifle, dass viele das Leben hier als unangenehm empfinden. Aber ich ahne, worauf sie hinauswollen - auf das Thema Diskriminierung. Das kann schon mal nerven.
Ferda Ataman ist Kolumnistin für Spiegel Online sowie Sprecherin der Initiative "Neue Deutsche Organisationen".
Das Netzwerk "Neue Deutsche Organisationen" besteht aus rund 100 Vereinen und Initiativen und setzt sich für Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe von Zuwanderern und deren Nachkommen in Deutschland ein.
Ataman wurde 1979 in Franken geboren. Heute lebt sie in Berlin.
tagesschau.de: Nähern wir uns dem Thema positiv: Als Mitbegründerin der Initiative "Neue Deutsche Organisationen" setzen Sie sich für mehr Teilhabe von Zugezogenen am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ein. Welches Ideal haben Sie von Deutschland?
Ataman: Wir sind ein bundesweites Netzwerk von etwa 100 Initiativen. Wir engagieren uns für ein weltoffenes Deutschland, für ein gerechtes Bildungssystem und gegen Rassismus. Wir sind die Bindestrich-Deutschen, die in der Statistik mit Migrationsextra aufgeführt werden. Viele haben Eltern oder Großeltern, die als Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge kamen, manche von uns leben aber auch schon in der x-ten Generation in Deutschland, wie Sinti und Roma oder viele Afrodeutsche. Wir arbeiten daran, dass die deutsche Gesellschaft inklusiv wird. Damit meinen wir, dass alle Menschen Zugangsmöglichkeiten zu Bildung und Arbeit bekommen, dass die Vielfalt in der Gesellschaft überall sichtbar wird. Wir beobachten immer wieder Situationen, in denen Leute bei gleicher Qualifikation einfach nicht die gleichen Chancen bekommen - zum Beispiel weil ihr Name nicht typisch deutsch klingt. Die Teilhabe, das Mitmachen-können scheitert mitunter daran, dass Menschen diskriminiert werden. Das muss gar nicht absichtlich passieren, aber es passiert.
Die Gesellschaft in ihrer Vielfalt vertreten
tagesschau.de: Wo sehen Sie Möglichkeiten, Ihre Ideen umzusetzen?
Ataman: Der Staat muss da eine Vorbildrolle einnehmen - also in den Behörden, in der Politik, auf der Verwaltungsebene. Konkret geht es darum, dass in diesen Bereichen viel mehr Menschen arbeiten, die nicht nur den Staat vertreten, sondern auch die Gesellschaft in ihrer Vielfalt vertreten können. Fakt ist, dass es rund 22,5 Prozent Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund gibt. Und wir finden fast nirgends an den relevanten Stellen - also weder in der Verwaltung, noch in der Wirtschaft, noch in Politik und Medien oder bei zivilgesellschaftlichen Verbänden - diese 22,5 Prozent wieder.
tagesschau.de: Sie plädieren für eine Quote?
Ataman: Im besten Fall passiert sowas ohne Quote, indem man beim Einstellen einfach auf Vielfalt achtet. Aber wenn wir mal ehrlich sind, hat das ohne eine Frauenquote bzw. eine gezielte Gleichstellungspolitik auch lange nichts gebracht. Im öffentlichen Dienst - dort haben wir eine proaktive Gleichstellungspolitik - werden inzwischen Frauen eingestellt, sollten sie unterrepräsentiert sein. Und dasselbe könnte man auch bei Menschen mit Migrationshintergrund machen. Wir brauchen ein Vielfaltsbewusstsein bei den Arbeitgebern und in anderen Bereichen. In der Wirtschaft, bei international arbeitenden Firmen, findet sich das noch am ehesten.
tagesschau.de: In welchen Situationen erleben Sie ein solches Vielfaltsbewusstsein, also ein ganz normales Miteinander?
Ataman: Meine Lieblingsgeschichte ist die eines Schützenkönigs mit türkischem Namen, der in Nordrhein-Westfalen auf seine Weise am gesellschaftlichen Leben teilnimmt. Es gab Protest gegen ihn, weil er kein Christ ist, aber seinem Schützenverein in Werl ist das egal. Weil er zu ihnen passt. Fertig. Im Sport, im ehrenamtlichen Verein, im Alltagsleben - da werden Vorurteile quasi nebenbei abgebaut. Da funktioniert es von selbst, da muss keiner in die Schule kommen und erst erklären, dass Schwule, Muslime, Juden oder Migranten in Ordnung sind. Man lebt, man lernt sich kennen, und dann funktioniert das eigentlich auch ganz gut. Integration durch Sport war früher ein Riesenthema. Davon höre in den letzten Jahren nichts mehr.
Özil war der gefeierte Integrationsstar - und jetzt?
tagesschau.de: Man kann es vielleicht am Beispiel der Fußball-Nationalmannschaft fest machen. Beim Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 wurde häufig das Multiethnische der Mannschaft betont. Wurde dieser Konsens nun wieder aufgebrochen?
Ataman: Es gibt die Erwartungshaltung, dass Einwanderer - in dem Fall Kinder von Einwanderern wie Mesut Özil - keine Fehler machen dürfen. Özil war der gefeierte Integrationsstar. Jetzt hat er einen durchaus zu recht kritisierten Fehler gemacht. Aber dass er deswegen aus der Nationalmannschaft oder gleich aus Deutschland rausgeworfen werden soll, zeigt, dass viele unter Integration völlige Anpassung, fehlerfreies Deutsch und fehlerfreies Verhalten erwarten. Aber so funktioniert das nicht. Integration heißt, man wird Teil dieses Landes. Und wenn jemand einen Fehler macht, dann hat er einen Fehler gemacht. Deshalb ihm das Deutschsein abzusprechen - wo leben wir denn?
"Özil war der gefeierte Integrationsstar", sagt Ataman. "Jetzt hat er einen durchaus zu recht kritisierten Fehler gemacht." Aber deshalb aus der Nationalmannschaft schmeißen?
tagesschau.de: Macht sich innerhalb der Gruppe von Zugewanderten eine Enttäuschung breit?
Ataman: Klar. Wer sich die politischen Debatten derzeit antut, kann den Eindruck bekommen, es gibt "echte Deutsche" und "Deutsche mit Migrationshintergrund". Und die einen bestimmen darüber, ob die anderen dazugehören oder nicht. Das hat schon dazu geführt, dass ganz viele Leute gelinde gesagt irritiert, eher noch enttäuscht sind. Manche resignieren. Wenn sich Teile dieser Gesellschaft auf Dauer nicht zugehörig fühlen, kann das nur Konflikte hervorrufen. Wir müssen endlich verstehen, dass auch jemand mit dem Namen Sunju oder Ibrahim deutsch sein kann.
"Alles wird vermischt"
tagesschau.de: In Diskussionen über Integration wurde oft die Frage gestellt, was man von Muslimen in Deutschland erwarten kann. Was halten Sie von der Frage?
Ataman: Ich würde bei der Frage gerne wissen, wen man mit Muslimen meint. Denn meistens meint man damit knapp fünf Millionen Menschen, die als solche erfasst werden. Dazu zählen aber auch Leute wie ich, die nie gefragt wurden, ob wir überhaupt gläubig sind oder praktizieren. Muslime ist die Umschreibung für Menschen aus bestimmten Regionen wie der Türkei oder dem Nahen Osten. Der Fokus in Sachen Integration liegt dann nicht auf Einwanderern generell, sondern nur auf einer kleineren Gruppe. Russischsprachige Migranten, Einwanderer aus Osteuropa, Asien oder anderen Regionen werden übersehen. Das ist integrationspolitisch der völlig falsche Ansatz.
tagesschau.de: Wie erleben Sie die derzeitige Diskussion über Zuwanderung in Deutschland?
Ataman: Es geht in den letzten zwei Jahren nur noch um Flüchtlinge und Asyl. Alles wird vermischt. Selbst in Seehofers "Masterplan Migration" wird reguläre Einwanderung und Asylpolitik durcheinander geworfen. Dabei haben wir auch vor 2015 eine Debatte über Migration und Integration. Wir müssen unbedingt wieder zurückkommen zu einem normalen Diskurs darüber, wie wir dieses Land gestalten wollen. Uns geht es derzeit sehr gut in Deutschland. Aber wir reden gerade, als würde unser Land durch eine Million Geflüchtete untergehen. Wir führen geradezu apokalyptische Diskurse. Und das macht natürlich Angst und schlechte Stimmung. Das muss überhaupt nicht sein. Wir haben viel Erfahrung mit Integration, wir sind ein klassisches Einwanderungsland. Es gibt keinen Grund, so viel Angst zu haben oder so zu tun, als wüssten wir nicht, wie man mit Neuzuwanderern umgeht. Wir sind Profis darin.
Das Gespräch führte Günter Marks, tagesschau.de