Verein veröffentlicht Top Ten Welche Nachrichten zu kurz kommen
In den Nachrichten dominieren häufig ähnliche Themen. Die "Initiative Nachrichtenaufklärung" will das durchbrechen - und veröffentlicht einmal im Jahr eine Top-Ten-Liste der vergessenen Nachrichten.
Am Anfang waren es Medienwissenschaftler, die mit ihrer Forschung Belege für das allgemeine Gefühl lieferten, dass sich die Nachrichten hierzulande und weltweit doch sehr ähneln. Bestimmte Themen haben Konjunktur und werden von allen Redaktionen veröffentlicht. Da war die Statistik eindeutig. Was aber bedeutet das und wie sollte damit umgegangen werden?
Diese Fragen stellten sich die Wissenschaftler gemeinsam mit Journalistinnen und fanden eine scheinbar sehr deutsche Antwort darauf: Sie gründeten 1997 den Verein "Initiative Nachrichtenaufklärung", kurz INA. Allerdings stammt die Vereinsidee aus den USA - "Project Censored" heißt das Vorbild dort.
Beide Vereine haben es sich zum Ziel gesetzt, ein wenig Abwechslung in den Nachrichtenmarkt zu bringen, zum Beispiel, indem sie alternative Themen anbieten, die auch interessant und berichtenswert wären. Die Redaktionen sollen angeregt werden, ihre Themenfindung und -auswahl immer wieder zu hinterfragen.
Mehr konstruktive Nachrichten
In Deutschland erscheint nun alljährlich die Top-Ten-Liste der vergessenen Nachrichten. 2024 steht auf Platz 1 der Liste die sogenannte Phytosanierung. Das ist eine Methode, schwermetallbelastete Böden mittels bestimmter Pflanzen zu reinigen. Die Pflanzen nehmen die Schwermetalle aus dem Boden auf und lagern sie ein. Der Boden ist gesäubert, die Metalle können aus den Pflanzen wiedergewonnen und verarbeitet werden. Eine sehr effektive und umweltfreundliche Methode, die aber bisher in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt ist.
"Wir freuen uns mit dem Topthema 1, der Phytosanierung, einem sehr konstruktiven Thema zu öffentlicher Aufmerksamkeit zu verhelfen", sagt Hektor Haarkötter dazu, INA-Vorsitzender und Professor für politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Denn gerade Themen, die Problemlösungen anböten, fänden seltener in die Nachrichten als die Probleme selbst.
Das hat etwas mit der Logik der Nachrichtenfindung zu tun. Es werden Themen ausgewählt, die ein gewisses Diskussionspotential bieten. Viele Journalistinnen und Journalisten betrachten es als ihre Aufgabe, auf Probleme und Missstände hinzuweisen. Für positive Weiterentwicklungen bleibt dann angesichts neuer Aufreger oft keine Zeit.
Digitale Themen in Fokus
Aber auch die Top-Ten-Liste beinhaltet vor allem Themen, die auf bestimmte Probleme hinweisen. Platz 2 etwa beschäftigt sich mit den großen Digitalkonzernen. Der Befund von INA: "Das Internet ist fest in der Hand sehr weniger Monopolisten. Der mit Abstand größte Teil des nicht nur deutschsprachigen Internets ist ein Friedhof: Webangebote abseits von Youtube, Facebook & Co. finden praktisch keine Aufmerksamkeit."
Auch Platz 3 beleuchtet ein Problem aus der digitalen Welt: Es ist der politische Einfluss, dem sich Google Maps unterwirft. Wenn etwa die Landkarte Indiens in Indien aufgerufen wird, gehört ganz Kaschmir dazu. Außerhalb Indiens ist der ungeklärte Status des Gebiets gekennzeichnet.
Genauso wird mit Nordzypern verfahren. In der Türkei gilt es als unabhängige Republik, außerhalb der Türkei gehört der Norden zu ganz Zypern, weil der völkerrechtliche Status der vermeintlichen Republik nicht anerkannt ist. Davon gibt es weltweit einige Beispiele.
Die INA findet das absolut berichtenswert. "Diese kommentarlose Übernahme politischer Vorgaben zementiert jeweils die Sicht, wonach die Ansprüche des eigenen Landes die unumstrittene Wahrheit seien, und beeinträchtigt so die Suche nach Kompromissen und Ausgleich", heißt es in der Pressemitteilung. In Deutschland aber sei das Phänomen weitgehend unbekannt.
Demokratische Themenauswahl
Themen wie dieses sind auch nicht einfach so zu recherchieren. Wer geht schon in Indien oder der Türkei ins Internet, um auf einer Landkarte den völkerrechtlichen Status eines Gebietes zu erfahren? Dabei hilft der INA der Weg, auf dem die sogenannten vergessenen Nachrichten zu ihr finden: Sie ruft auf ihrer Website Interessierte dazu auf, Themen vorzuschlagen, die relevant sind, aber in den deutschen Nachrichten zu wenig oder gar nicht vorkommen.
Aus diesen Vorschlägen wird dann eine Liste erstellt, die Studierenden von Medienseminaren an beteiligten Hochschulen übergeben wird, die die Themen dann recherchieren: Ist das Dargestellte richtig? Wie relevant ist es? Was diese Vorprüfung erfolgreich besteht, wird einer Jury aus Medienwissenschaftlerinnen und Journalisten vorgelegt, die dann demokratisch die Top Ten ermittelt.
"So ein Reinfall"
Das können dann auch Themen sein, die auf den ersten Blick banal erscheinen. Platz 4 beschäftigt sich etwa mit der zunehmenden Zahl von Schlaglöchern in Nordrhein-Westfalen. Aber die kaputten Straßen und Gehwege haben durchaus Potenzial, die regionale Aufregergrenze zu überspringen, denn nicht nur Nordrhein-Westfalen ist davon betroffen. Und die Folgen von Schlaglöchern können gravierend sein - für Radfahrer zum Beispiel.
Aber niemand weiß so genau, wo es wie viele Schlaglöcher gibt, deshalb werden sie als Problem immer nur eingeschränkt wahrgenommen. Oft überdauern sie viele Jahre, weil andere, größere Straßenschäden vorgehen.
Die INA verbindet ihre Nachricht, die sie "So ein Reinfall" nennt, mit einem Positivbeispiel: In Großbritannien werden Schlaglöcher zentral erfasst und überwacht, sodass es auffällt, wenn die Zahl überhandnimmt. Reparaturen können so besser geplant werden.
Stellvertreterthemen statt Fundamentalkritik
Wer die Top-Ten-Liste liest, findet dort auch die vergessene Tropenkrankheit Noma, die Gefahren von Titandioxid in Arzneimitteln, das unterschätzte Weltsozialforum als Gegenentwurf zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Und die zu wenig propagierte Crossover-Nierenspende, bei der lebende Menschen Nieren an Erkrankte spenden, mit denen sie nicht verwandt sind. Oder die Probleme von Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte, die als Vermittler zwischen ihren Familien und der deutschen - oft bürokratischen - Umwelt einspringen müssen, weil staatliche Strukturen fehlen.
Die Themen sind sehr vielfältig und alle interessant. Was aber unterscheidet sie von Tausenden anderen Themen, die ebenfalls vielfältig und interessant sind und keinen Eingang in die Top Ten finden?
Marlene Nunnendorf, Sprecherin der INA und Mitarbeiterin der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, erwidert darauf, es seien nur Stellvertreterthemen, die deutlich machen sollen, was alles noch berichtenswert sein könnte. Es gehe nicht darum, den Redaktionen vorzuhalten, was sie vergessen hätten, sondern um eine Anregung, den Blick auch auf Gebiete und Themen zu richten, die nicht in aller Munde seien. Oft gehe im Produktionsstress die Offenheit für Neues und die Muße für Recherche verloren. Das führe dazu, dass sich die Nachrichten über alle Medien hinweg so ähnlich seien.
Aber auch die Vereinsmitglieder von INA sind Fachleute genug, um einzuräumen, dass es Zwänge gebe, die es eher ungewöhnlichen Nachrichten schwer machten. Wenn eine Radio- oder Fernsehsendung nur ein paar Minuten lang sei, würde die Frage "Ukrainekrieg oder Phytosanierung?" wohl eher mit Ukrainekrieg beantwortet.
Anregung zur Recherche
Und auch die Top Ten unterliegen durchaus den Problemen, die Nachrichtenredaktionen kennen. Manche Themen sind sehr aufwändig und langwierig zu recherchieren. So heißt Platz 10 "Allein auf dem Acker - Suizide in der Landwirtschaft" und beschäftigt sich mit der These, dass Landwirte aufgrund der sich immer weiter verschlechternden Produktions- und Einkommensbedingungen oft derart überfordert seien, dass überproportional viele von ihnen an Depressionen und Burnout leiden würden - offenbar 4,5 mal häufiger als andere Berufsgruppen.
Allerdings gibt es dazu gar keine offiziellen Zahlen. Nur Fachverbände und Branchenveröffentlichungen greifen das Thema auf. Aber woher kommt dann die konkrete Zahl 4,5 - und warum sollten Landwirte belasteter sein als zum Beispiel Beschäftigte in der Altenpflege?
Marlene Nunnendorf von der INA sagt dazu, das seien richtige Fragen. Die Top Ten verstünden sich auch als Anstoßgeber für die Redaktionen, Themen aufzugreifen und weiter zu recherchieren. Wichtig sei vor allem, die Neugier zu behalten.